Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
eigene Haut retten und die seiner Leidensgenossen.
Nur zu diesem Zweck würde er versuchen, mit Dräger zu reden. Unter Aufbringung aller
Kraftreserven würde er sich bemühen, seine Verachtung und den pochenden Schmerz
in den Hintergrund zu drängen.
»Hören Sie,
Dräger.« Pohlmann schluckte öligen Speichel hinunter und gab sich Mühe, deutlich
zu sprechen. »Es tut mir leid, dass man Sie schlecht behandelt hat. Und nein, ich
hatte keinen Vater, der mit mir gespielt hat. Er ist auch nicht mit mir auf Bäume
geklettert und hat auch sonst nichts mit mir unternommen. Mein Vater war ein Arsch.
Wahrscheinlich nicht so ein Riesenarsch wie Ihrer, denn er hat mich nicht verprügelt,
sondern nur vollständig ignoriert, aber er war trotzdem ein Arsch. Ich kenne Ihren
Schmerz, Dräger.
Ich möchte
Sie trotzdem bitten, mich loszubinden. Ich könnte einiges für Sie tun. Wenn Sie
mich losmachen, verspreche ich Ihnen, dass ich ein gutes Wort bei meinem Chef für
Sie einlegen werde.« Pohlmann sah mit flehendem Blick in Drägers Augen, der unbeweglich
vor ihm stand und ihn ansah.
Dräger hielt
die Knochenzange in der Hand und spielte mit dem Schließmechanismus. »Das interessiert
mich einen Scheiß, was Sie für mich tun könnten. Erstens werden Sie gar nicht mehr
dazu kommen, mit Ihrem Chef zu sprechen, und zweitens …«, Dräger wandte sich kurz
von Martin ab, holte aus und ließ seine Faust in Pohlmanns Gesicht zurückkehren,
»und zweitens ist das eine Lüge, für die Sie bezahlen werden. Nie im Leben würden
Sie für mich ein gutes Wort einlegen. Ich hasse es, wenn man mich belügt, und noch
mehr hasse ich es, wenn man mich verspottet. Und nun, mein lieber Ober-Haupt-Kommissar,
verabschieden Sie sich von Ihrem dritten Finger. Selbst, falls Sie hier lebend rauskommen
sollten – was ich mit allen Mitteln zu verhindern weiß –, könnte kein Chirurg der
Welt diese Fragmente wieder so zusammensetzen, dass Sie damit einen Stift in der
Hand halten können.« Und mit diesen Worten legte Dräger die Zange an Martins Ringfinger
an und ließ ihn ohne den Hauch eines Zögerns zerbersten.
Kapitel 55
Scharmbeck, 12. November 2010
Blut lief aus Martins Nase in seinen
Mundwinkel hinein. Wenn ihn nicht der Schmerz ohnmächtig werden ließ, war es der
Geschmack von Blut, den er seit jeher verabscheute. Martin schloss die Augen und
fand sich weit weg auf einer blühenden Wiese wieder, auf der er ausruhte. Sein Gehirn
spielte ihm einen Streich und wollte ihm Gutes tun. Dort auf dieser Wiese, die er
beinahe körperlich spürte, wo er ihren Geruch vernahm und das Rascheln der Ähren
und Blätter im Wind hörte, dort gab es keinen Schmerz, keinen sadistischen Peiniger
und keine bis zur Unkenntlichkeit zerbrochenen Gliedmaßen. Dort wollte er bleiben,
für immer und ewig, und auch die Schläge ins Gesicht und das eiskalte Wasser, das
man in sein blutendes Gesicht spritzte, änderten daran nichts. Die Bewusstlosigkeit
hüllte ihn ein wie ein wärmender Mantel.
*
Alois Feldmann wiegte seinen Körper
wie ein Kind auf der Pritsche hin und her und hörte die Schreie des Kommissars von
nebenan. Obgleich die Tür zu ihrem Verlies dick und gut verriegelt war, waren die
Wände selbst nicht schalldicht. All die verzweifelten Schreie und Rufe drangen an
Feldmanns und Emilies Ohren. Feldmann wimmerte und zitterte und hatte nicht in erster
Linie den Tod vor Augen, sondern die Schmerzen, die dem vorausgehen würden. Nein,
er wollte nicht sterben. Er war noch nicht so weit. Es gab noch so viel zu tun,
von der Welt zu sehen und auf dieser Erde zu erleben. Feldmann suchte in seiner
Panik nach einem Weg, das Unvermeidliche zu vermeiden. Gelassenheit war nur dort
angeraten, wo man sicher sein konnte, dem Unvermeidlichen nicht ausweichen zu können.
Ob diese Situation aussichtslos war oder nicht, konnte er nicht beurteilen. Die
Hoffnung stirbt zuletzt, rief er sich ins Gedächtnis. Es gab immer einen Weg. Vielleicht
würde Dräger noch zur Vernunft kommen, hoffte er. Oder die Polizei würde nach ihnen
suchen und sie hier finden, mit Hunden oder Wärmebildkameras aus einem Hubschrauber.
Es musste doch einen Weg geben, alles Erdenkliche zu versuchen, um hier herauszukommen.
Feldmann
überlegte, ob es beschwichtigende Worte gäbe, die in Drägers Herz treffen würden,
sobald er die Gelegenheit dazu bekommen würde. Er dachte an Verse aus der Bibel,
die, wie er wusste, schärfer waren als jedes Schwert.
Er legte
seinen Kopf in seine
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