Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
nur noch auszuquetschen, sofern der diensthabende
Arzt jener Station, auf der Dräger lag, die Vernehmung gestatten würde. Ärzte hatten
häufig nur den bemitleidenswerten Zustand ihrer Patienten im Auge und blendeten
aus, wen sie da in ihrem Klinikbett eigentlich vor sich liegen hatten. Ihnen war
egal, ob sie einen Kriminellen oder einen Heiligen pflegten, und sie hielten die
Staatsgewalt so lange zurück, bis sie der Überzeugung waren, dass der Patient vernehmungsfähig
sei.
Dräger lag
jedoch nicht in einem Klinikbett, sondern in einem heimeligen Kühlfach der Pathologie,
und es gab niemanden, der Martin Pohlmann davon in Kenntnis gesetzt hatte.
Kapitel 61
Hamburg-Eppendorf, 18. November
2010
Gegen acht Uhr gab es Frühstück.
Pohlmann versuchte, sich in seinem Bett aufzurichten. Mühsam schwang er die Beine
über die Bettkante, und erst jetzt bemerkte er, was er am Leibe hatte. Er trug eine
Art Nachthemd, das hinten offen war und eher wie eine Zwangsjacke wirkte. Die rechte
Hand im Gips und der Arm in der Schlinge machten das Schmieren des Brotes zu einem
Abenteuer. Das Brot rutschte auf dem Teller hin und her, und die Butter war hart,
sodass sie sich nicht schmieren ließ. Grunzend ließ er sie weg. Er legte zwei Scheiben
Mortadella auf das Brot und stopfte es sich in den Mund. Der erste Bissen trieb
ihm die Schweißperlen auf die Stirn. Das fixierte und verschraubte Jochbein nahm
ihm die Bewegung seiner Kaumuskeln übel. Er beschloss, den Brocken unzerkaut hinunterzuschlucken.
Die letzten Tage hatten bewiesen, dass er außer Form war, und ein paar Pfunde weniger
würden ihm gut zu Gesicht stehen.
Fasten sollte
ja gesund sein, hatte er gelesen, und er beschloss, sofort damit anzufangen.
Gegen neun
Uhr war Visite. An diesem Tag hatte der Professor sieben junge Assistenten im Schlepptau.
Alle wollten den Mann sehen, der mit der ›Bestie‹, wie die Medien Dräger mittlerweile
nannten, gekämpft hatte. Die wildesten Gerüchte rankten sich um diesen Fall, nachdem
die Presseabteilung der Polizei einstweilen einen Informationsstopp verhängt hatte.
Erst mussten alle Fakten sortiert und von Mutmaßungen getrennt werden. Das hinderte
die Hamburger Bürger nicht daran, ihren Helden mit erdachten abenteuerlichen Geschichten
in Verbindung zu bringen.
Der Professor
vergrub seine Augen in den Anmerkungen der Handakte und begann zu lesen, ohne aufzusehen.
Mit den üblichen Worten: »Guten Morgen, Herr Kommissar. Wie haben wir denn geschlafen?«,
wandte er sich dann seinem Patienten zu.
Martin blickte
in die Gesichter der jungen Assistenzärzte, die alle ein feines Grinsen zur Schau
trugen. Ihm schien fast, als würden sie jeden Moment nach vorn an sein Bett stürmen,
um ihn um ein Autogramm zu bitten.
»Keine Ahnung,
wie Sie geschlafen haben, ich habe ziemlich gut geschlafen. Meinetwegen könnte ich
noch zehn Stunden dranhängen. Ich hätte auch nichts dagegen, noch eine Dröhnung
Morphin zu bekommen.«
Der Professor
warf einen nachdenklichen Blick auf die Gestalt in dem Bett, vor dem er stand. »Nun,
in Anbetracht Ihrer Verletzungen lässt sich das sicher einrichten. Ich gebe gleich
der Stationsschwester Bescheid.«
Professor
Schultheiss las weiter in der Akte. Einer der Assistenten versuchte, ihm über die
Schulter zu schauen, um einen Blick auf den OP-Bericht zu erhaschen.
»Sie haben
eine stattliche Liste an Verletzungen, das muss ich schon sagen.« Schultheiss begann,
etwa zehn Punkte an Brüchen, Schnitten, Quetschungen und Prellungen und natürlich
der Schussverletzung vorzutragen. Der Referent in ihm, der es täglich gewohnt war,
vor Studenten zu sprechen, kam zum Vorschein. Bei jedem Punkt blickten die Studenten
und Berufsanfänger mitleidig in Martins gesundes rechtes Auge. Sie taxierten seineReaktion, ob sie der eines typischen Fernsehkommissars entsprach. Indes ließ
Martin die Vorlesung gleichmütig an sich vorüberziehen. Jeder Schlag, Hieb und Tritt,
den Dräger ihm zugefügt hatte, lebte in seinem Gedächtnis fort. Ein Film wie im
Zeitraffer lief vor seinem inneren Auge ab und machte ihm die Stunden im Verlies
lebendiger, als ihm lieb war.
Nachdem
sich Schultheiss zum Gehen gewandt hatte, konnten es einige Jungärzte nicht unterlassen,
dem ruhebedürftigen Kriminalbeamten die gesunde Hand zu schütteln. Zum einen, weil
sie in ihrer medizinischen Neugier endlich jemanden trafen, der eine echte Schusswunde
hatte, und zum anderen, weil sie ehrlichen Herzens froh waren, dass er sie von
Weitere Kostenlose Bücher