Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
kalkulieren, wie sie auf die Frau wirken würden, und hatte
doch jede Silbe ernst gemeint.
Eine Weile
sahen sie sich an und bemerkten, was zwischen ihnen geschah, ohne erklären zu können,
wie es funktionierte. Als für Catharine die Atmosphäre zu energiegeladen wurde,
schloss sie für einen Augenblick die Augen und wandte sich von ihm ab. Dieses grandiose
Aufleuchten in ihrem Inneren verschlug ihr fast die Sprache, und die Hilflosigkeit
im Umgang mit diesen Gefühlen erschreckte sie. Sie fühlte sich wie ein Teenager
und hatte Mühe, die körperlichen Reaktionen wie Puls, Herzschlag und Gesichtsröte
unter Kontrolle zu bekommen. Hastig griff sie nach ihrer Handtasche und kramte eine
Akte hervor.
Stotternd
griff sie den Faden auf, den sie Minuten vorher verloren hatte.
»Es gab
da in Lüneburg mal ein Kind«, begann sie und gab sich Mühe, den Blick auf die Akte
und nicht auf Martin gerichtet zu halten. »Es gab einen Jungen, der kurz vor Kriegsende
nach Lüneburg in die Kinderfachabteilung gekommen war.«
Auch Martin
fand mit Mühe in die nüchterne Realität zurück.
Ein verklärtes
Grinsen wie nach einem sexuell befriedigenden Erlebnis lag auf seinem Gesicht, ohne
dass sich Körper vereinigt hätten – nur Seelen.
»Ja, stimmt,
du wolltest mir etwas erzählen.« Martin räusperte sich und strich verlegen mit der
gesunden Hand die Bettdecke glatt. Er sah sie an.
»Okay. Ich
fang noch mal an. Also. 1945 kam ein achtjähriger Junge nach Lüneburg. Er wurde
den Eltern entzogen, nachdem er mehrfach auffällig geworden war. Er war streitsüchtig,
hatte keinerlei Respekt vor Uniformen, beschimpfte die Nazis, und wäre er nicht
ein deutscher arischer Junge gewesen, hätten sie ihn auf der Straße erschossen.
Nachdem man ihn eine Weile beobachtet hatte, kam man zu der Ansicht, dass das Verhalten
des Jungen nicht korrigierbar sei. Er steckte voller Aggressionen, war gewalttätig
gegen jeden, nicht nur gegen die Eltern, und die NS-Ärzte bescheinigten ihm eine
besondere Form des angeborenen Schwachsinns. Seine Intelligenz schien unterdurchschnittlich
und der Junge wurde zu einer immensen Belastung für seine Eltern. Man sagte ihnen,
sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen. In der Kinderfachanstalt würde man sich
so um ihn kümmern, wie es für den Jungen angemessen wäre. Er würde dort die medizinische
Behandlung erfahren, die ihm guttäte und die ihn gesund machen würde. Stattdessen
war der Junge ein gefundenes Fressen für die Nazis, im Übrigen auch für diesen Dr.
Fürst, dessen Unterschrift ich einige Male in der Akte gefunden habe. Sie wollten
ihn auf verschiedene Medikamente und Therapien testen, um herauszufinden, unter
welchen Bedingungen er friedlich und ruhig werden würde. Sie hatten ihn sogar für
eine Lobotomie vorgesehen.«
»Eine was?«
»Eine Lobotomie
war ein chirurgischer Eingriff, bei dem Nervenbahnen durchtrennt wurden. Man machte
aus den Menschen gefühlskalte, fantasielose Roboter, die ihrer Persönlichkeit beraubt
waren.«
»Ist ja
schaurig, was du mir da erzählst. Ich dachte, du baust mich mal ein wenig auf und
sagst mir was Nettes.«
»Mach ich
auch jetzt.«
Sie berührte
seine Hand erneut, als folge sie einem Zwang. »Interessiert dich gar nicht, wer
dieser Junge war?«
Martin hob
die unverletzte Schulter. »Es war schön, dir einfach nur zuzuhören. Ich mag deine
Stimme.« Er grinste und genoss es, Catharine in Verlegenheit gebracht zu haben.
Rasch beendete er die bedrückende Stille. »Klar interessiert es mich, ich dachte,
irgendwann wirst du es mir schon erzählen.«
Catharine
schmunzelte. »Du kommst nicht drauf, oder?«
Martin dachte
nach. »Also, wenn du mir schon so eine Story erzählst, dann hat sie mit meinem Fall
zu tun, das ist ja klar. Und wenn ich von dir von einem Jungen höre, der gewalttätig
und aggressiv war, dann fallen mir meine fürchterlichen Stunden mit Dräger wieder
ein. Hat es irgendwas mit Dräger zu tun?«
»Allerdings.
Der Junge hieß Wilhelm Dräger. Geboren am 23. April 1937 in Lüneburg …«
»Und lass
mich raten. Er überlebte natürlich.«
»Klar, sonst
hätte er ja keinen Sohn zeugen können. Ich hab mich mit deinem Freund Werner ein
bisschen unterhalten, und er hat für mich ein wenig recherchiert. Einwohnermeldeamt,
Standesamt und so weiter.«
»So, so.
Das hat Werner für dich gemacht? Das ging aber schnell.«
»Na ja.
Ich habe nur den Namen Dräger erwähnen müssen, und schon hatte ich ihn auf meiner
Seite.«
»Okay. Was
gibt
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