Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Schöller
senior an höchster Stelle thronte und protestierte, ließ tief blicken. Niemand im
Präsidium schien Klaus Schöller zu mögen, vielleicht, weil seine Beförderungen nicht
erarbeitet, geschweige denn erkämpft worden waren, sondern durch Beziehungen von
ganz oben ermöglicht wurden, wie auch immer dies innerhalb eines funktionierenden
Rechtsstaats vonstatten gegangen war.
Pohlmann
holte sich ein weiteres alkoholhaltiges Getränk aus der Küche und musste sich eingestehen,
dass die Arbeit an diesem Fall seinem Intellekt eine gewisse Befriedigung verschaffte.
Eine Beschäftigung, die diametral zu dem stand, was er beinahe zwei Jahre in Ecuador
erlebt hatte. Manche Touristen fielen ihm ein, denen man es nie recht machen konnte.
Die immer etwas zu nörgeln hatten, selbst wenn es keinen Grund gab. Oder jene, die
alles mitgehen ließen, was nicht angekettet oder installiert war. Aschenbecher,
Handtücher, Fußabtreter und Bettlaken mit dem Hotelemblem, ja, sogar Badezimmerspiegel
wurden geklaut. In solchen Momenten wünschte sich Martin nach Deutschland zurück.
Er idealisierte in Gedanken seinen Job als Bulle und fragte sich, warum er überhaupt
abgehauen war. Wenn es einem nach einem Burn-out wieder gut ging, erschienen viele
Gedanken, die in solch einer pathologischen Phase hochkamen, als unsinnig und nicht
von einem selbst stammend. Und nun war er wieder in Good Old Germany und hatte eine
neue Realität zu durchleben.
Pohlmanns
Blick verlor sich im Türrahmen seines Schlafzimmers, und ihm fiel jene braune Kladde
wieder ein, die er schon am Vortag zu lesen begonnen hatte. Das düstere, poetische
Gedicht der Patientin und die merkwürdigen Andeutungen darin. Allerdings wartete
da noch der Ordner mit den beiden anderen Beklagten auf ihn. Martin entschied zugunsten
der poetischen Kost, stand auf und holte die Kladde. Zurück auf seiner Couch, begann
er gegen Mitternacht, darin zu lesen. Nun wollte er nicht wahllos darin herumblättern,
sondern von vorn beginnen. Wenn die Alte schon nicht redet, dachte er, so scheint
sie trotzdem etwas zu sagen zu haben, sonst würde sie nicht ein so dickes Buch verfassen
können. Eine geheime Bewunderung befiel ihn, denn das Verfassen von Texten war nie
seine Stärke gewesen. Darin zu lesen und zu bewerten, wie ein Lektor es zu tun pflegte,
das mochte er, aber selbst etwas zu schreiben, was auch noch Sinn machte und literarisch
klang, das würde wohl für immer ein Traum bleiben müssen. Er betrachtete den Einband
und las die zwei Worte in sorgfältiger Schrift: Emilie Braun.
Und so begann
er die Zeilen der ihm noch weitgehend unbekannten Selbstmörderin zu lesen.
Wenn jemand diese Zeilen liest,
bin ich hoffentlich schon tot. Anders darf es nicht sein, denn es gibt nichts zu
dem, was ich geschrieben habe, hinzuzufügen. Es ist, wie es ist, und alles ist wahr,
was hier zu lesen ist. Selbst wenn ich, Emilie Braun, kein Mitglied der ehrenwerten
Gesellschaft bin, so bin ich doch nicht verrückt, wie man dort draußen behaupten
würde. Ja, es stimmt, ich habe fast mein ganzes Leben, wenige Jahre ausgenommen,
in einer Heilanstalt gelebt, zumindest hat man diese Orte früher im Krieg so genannt.
Ich bin ein Mensch wie jeder andere, vielleicht ein bisschen anders als die meisten.
Martin betrachtete die ersten Zeilen,
die er gelesen hatte. Vollständig ohne Rechtschreibfehler, mit sauberer, klarer
Schrift. Er konnte nicht glauben, dass dieses Buch wirklich von jener Person geschrieben
sein sollte, die er am Morgen kennengelernt hatte. Es könnte vielleicht ein anderer
für sie geschrieben haben, ein Ghostwriter, doch in einer geschlossenen Anstalt
dürfte diese Dienstleistung nur schwer zu erhalten sein. Um dies herauszufinden,
musste er wohl oder übel das ganze Buch lesen, und so suchte er den Absatz, an dem
er in seine Gedanken abgeschweift war.
Ich erinnere mich gut an die
letzten Tage in meinem ersten Kinderheim. Dort, wo ich geboren
bin. Dort will ich beginnen.
Ich war
vier Jahre alt. Die Sonne schien und es war warm. Ich spielte mit meinen Freunden,
den Schmetterlingen, den Käfern und den grünen Hüpfern, wie ich sie nannte. Ich
weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie sie über meine Finger krabbelten. Vieles
von damals hab ich behalten, manches, zum Glück, auch nicht. Ich weiß nicht mehr,
wer mich alles geschlagen hat, wer mich gestreichelt hat, wer mir gesagt hat, dass
ich, wenn ich darüber sprechen würde, sterben müsste. Ich weiß nicht mehr, wie
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