Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
er
hieß – ich kann mir keine Namen merken, aber ich sehe seine bösen Augen vor
mir. Es war ein großer fetter Junge mit dunklen Haaren und fleischigen Fingern,
die mich begrapschten. Seine Mutter wohnte auch im Heim, sie schlief bei den anderen
Frauen und arbeitete in der Küche. Ab und zu kam sein Vater vorbei. Er war auch
sehr groß, mit schwarzen Haaren und einer schwarzen Uniform. Einmal sprach
der Junge mit seinem Vater, und der Junge zeigte von Weitem auf mich. Dann kamen
sie zu mir über die Wiese gelaufen. Mir wollte das Herz stehen bleiben. Der Mann
sah mich an, sah zu seinem Sohn und strich mir über den Kopf. Ich erschrak, denn
an seinem Finger war ein silberner Ring mit einem Totenkopf. Ich lief, so schnell
ich konnte, und ich hörte, wie sie hinter mir lachten. Danach habe ich den Mann
nie wieder gesehen und den Jungen auch nicht. Ich wurde ins Haus gerufen, und der
Schreck hatte mich noch nicht verlassen, als mich jemand besuchen wollte. Es war
ein Mann, von dem Schwester Hildegard sagte, er sei mein Vater. Ich lag auf meinem
Bett und ruhte mich aus. Mein Vater kam an mein Bett, und als Erstes sah ich von
Weitem den Ring an seinem Finger, der genauso aussah wie jener von dem anderen Mann.
An seiner Mütze war der gleiche Totenkopf, vor dem ich große Angst hatte . Mit
solch einem Mann wollte ich nicht sprechen, nichts mit ihm zu tun haben, und ich
stellte mich tot, wie die Marienkäfer es taten, wenn sie sich fürchteten.
Wer immer
dies war, er mochte mich nicht und ich ihn auch nicht.
Am nächsten
Tag fuhr Hildegard mit mir viele Stunden in einem Zug durch Deutschland. Es musste
alles ganz schnell gehen. Wir waren in Eile, warum, weiß ich nicht mehr. Wir zogen
von einem Heim in das nächste um, das war das Einzige, was man mir gesagt hatte.
Hildegard spielte im Zug ein paar Spiele mit mir. Ich verstand nicht, welchen Sinn
diese Spiele haben sollten. Sonderbare Namensspiele. Sie hustete oft, obwohl es
Sommer war. Sie schwitzte und zitterte. Und doch lächelte sie mich an und strich
mir übers Haar.
Pohlmanns Augen tränten. Das Buch
in seiner Hand wurde schwer. Er beschloss schlafen zu gehen und räkelte sich kurze
Zeit später unter der wärmenden Daunendecke.
Kapitel 17
Hamburg, 4. November 2010
Am nächsten Tag kam Pohlmann erneut
zu spät ins Büro. Sein Haar schien widerspenstiger denn je, und seine ganze Erscheinung
wollte nicht so recht den Eindruck erwecken, dass man es hier mit einem engagierten
Kriminalbeamten zu tun hatte. Er trug eine löchrige Jeans, die man privat für trendy
gehalten hätte, doch in diesen heiligen Hallen wirkte sie deplatziert. Ein blau-weiß
gestreiftes Hemd aus grauer Vorzeit spannte über seinem Bauch, und auch die braunen
Wildlederstiefel passten eher auf eine Ranch als ins Präsidium. Eine Lederjacke,
wie sie der Pilot einer Doppeldecker-Propellermaschine getragen hätte, ergänzte
die Erscheinung. Unter seinem rechten Arm klemmten vier Akten, die nach nur einem
Tag in seiner Obhut Eselsohren an den Ecken aufwiesen.
Als er sein
Büro betrat, wartete Schöller auf ihn. Er saß in dem drehbaren Lehnsessel und wippte
darin herum. In seiner rechten Hand hielt er eine Zigarette, deren Rauch zur Decke
trieb und dort eine kleine Wolke bildete. Er hatte sich zum Fenster gewandt und
blickte in die Ferne. Als Schöller Pohlmann kommen hörte, drehte er sich nicht um,
man sah zunächst nur die feinen Rauchschwaden emporsteigen.
»Na? Mal
wieder zu spät, Kollege Pohlmann?«
Schöller
drehte den Ledersessel mit einem Ruck herum. Sein dunkles Haar war nach hinten gekämmt
und mit einer kleinen Menge Gel in Form gehalten. Der dunkelgraue Zweireiher saß
perfekt. Die Jacke war geöffnet und die gelbe Krawatte verschwand unter der Weste,
die zum Anzug passte. Schöllers Outfit entsprach dem Anlass einer Wohltätigkeitsveranstaltung
oder eines noblen Empfangs. Sein Blick ruhte selbstsicher auf Martins verschreckter
Miene, und er genoss den Augenblick der unerwarteten Überraschung.
»Was machen
Sie in meinem Büro, Schöller?«
»Herr Schöller.
Für Sie, Pohlmann, immer noch Herr Schöller.« Pohlmann betrachtete den Eindringling
mit Wut. Er atmete ein und aus und beherzigte die Empfehlungen seines damaligen
Therapeuten, die er ihm für Situationen des Konfliktmanagements mit auf den Weg
gegeben hatte.
»Also, was
gibt’s, Mann? Ich steh nicht auf diese Machtspielchen. Nur weil Sie Söhnchen vom
Chef sind, heißt das noch lange nicht, dass Sie sich
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