Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
erinnern sich sogar an Kleinigkeiten. Das ist echt erstaunlich.« Emilie
Brauns Stirnfalten glätteten sich, und es schien, als genösse sie das Gespräch mit
dem Kommissar, der gar nicht wie ein Kommissar redete.
»Ist nicht
viel passiert in meinem Leben. Gibt nicht viel zu erinnern. Passt alles in ein dünnes
Buch.«
»Ist es
Ihnen recht, wenn ich Sie zu einigen Dingen aus Ihrem Buch befrage? Ich versteh
nicht alles, und es gibt da ein paar Andeutungen, bei denen Sie mir helfen könnten.«
Frau Braun
nickte. Sie wirkte wie ein verängstigtes Tier, das allmählich Zutrauen fand und
aus seinem Bau herauskroch.
»Gut. Fangen
wir an. Zum einen interessiert mich, wie Sie das meinen, wenn Sie sagen, dass Professor
Keller schuld am Tod von Gerhard Strocka ist. Diesem ehemaligen SS-Offizier.« Frau
Braun nickte unmerklich, hörte aber konzentriert zu. Pohlmann fuhr fort: »Sie schreiben,
dass Keller Ihnen einen langen Brief geschrieben hat. Darin soll er die Schuld,
die er zwei Jahre mit sich herumgeschleppt hat, bereuen. Meines Wissens gibt es
diesen Brief nicht. Jedenfalls hat ihn niemand gefunden. Wann hatten Sie denn den
Brief zuletzt in der Hand?« Emmi schrak auf. Ihre Augen weiteten sich. Daran hatte
sie nicht gedacht. Der Brief. Den hatte sie vergessen. Sie hatte Pohlmann bei seinem
letzten Besuch gesagt, er dürfe alles lesen. Damit meinte sie auch den persönlichen
Brief vom Professor an sie. Nur übergeben hatte sie ihn noch nicht. In diesem Augenblick
freute sie sich darüber, gerettet worden und nicht gestorben zu sein, denn das wichtigste
Beweisstück hatte sie noch niemandem gezeigt.
Plötzlich
floss Leben in die Glieder der dünnen Frau. Sie stützte sich auf den Armlehnen ihres
Sessels auf und schwankte für die Dauer einiger Herzschläge bedenklich, bevor sie
aufstand. Pohlmann beugte sich vor, doch sie wehrte mit der linken Hand ab. Sie
schlurfte in ihren Puschen auf das Fenster zu. Dann bückte sie sich, ächzte und
griff mit einer Hand unter das Holzgitter vor der Heizung. Tropfendes heißes Wasser
hatte Jahre zuvor den Kleber einer Linoleumplatte gelöst. Irgendwann hatte sie diesen
Mangel entdeckt, den niemand zu beheben gedachte. Wenige Tage vor ihrem Suizid fiel
ihr dieser Hohlraum ein. Sie hatte den Brief, der in einem DIN-A5-Umschlag gefaltet
aufbewahrt war, dort hineingeschoben. Nun fingerte sie unter der losen Platte herum
und suchte ihn. Pohlmann beobachtete, wie ihre Bewegungen hektischer wurden. Sie
murmelte Unverständliches. Dann fluchte sie hörbar. Abrupt hielt sie inne und setzte
sich auf den Boden vor die Heizung. Ihre feuchten Augen sahen ins Leere, durch Pohlmann
hindurch. »Ich bin mir sicher, dass er hier war.« Sie schaute zur Decke und steckte
sich den Zeigefinger in die Zahnlücke. »Vielleicht hab ich ihn zu meiner Kladde
gelegt?« Ihre Worte klangen wie ein Monolog. Gedankenversunken stand sie aus ihrer
unbequemen Lage auf und tippelte zu dem hellgrauen Schreibtisch auf der anderen
Seite des Zimmers. Eilig riss sie die Schublade auf und kramte darin herum. Es raschelte
und knisterte, doch es schien nicht mehr da zu sein, was sie verzweifelt zu finden
hoffte. Sie ließ die Schublade offenstehen und ließ sich rückwärts in den Sessel
plumpsen. In Gedanken schien sie weit weg zu sein und intensiv nachzudenken. Dann
fand sie zu ihrer Sprache zurück. »Ich bin mir sicher, dass ich ihn hatte. Sie glauben
mir doch, oder?«
»Klar glaube
ich Ihnen. Warum sollte ich nicht? Was stand denn noch alles drin in dem Brief?«
Emilie schien
verzweifelt. »Diese komplizierten Dinge von dem Prozess. Hans hat darum gekämpft,
dass wir endlich anerkannt werden. Dass wir eine Identität kriegen und dieses Zeug.
Damit wir wissen, woher wir kommen, wer wir sind und so.«
Aus der
Frau, die bisher pro Jahr nur wenige Worte gesprochen hatte, sprudelte es heraus,
als wolle sie nichts mehr zurückhalten. » Alles stand da drin. Warum er Gerechtigkeit
wollte. Warum er vor Verbitterung fast gestorben wäre, als der Nazi uns vor Gericht
verhöhnt hatte. Warum er ihn auf dem Zimmer im Hotel besucht hat und wie er ihn
…«, Emilie stockte und schluckte angesammelten Speichel hinunter, »… wie er ihm
mit dem Leuchter auf den Kopf geschlagen hat.« Frau Braun kratzte sich an der Stirn.
»Am nächsten Tag stand ja alles in der Zeitung, und im Fernsehen haben sie es gezeigt.
Hans hat sich nicht der Polizei gestellt, weil wir sonst allein gewesen wären. Er
hat in seinem Brief geschrieben, dass er uns
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