Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Vorgesehen
war es nicht, wieder aufzuwachen. Sie hätte sich gefreut, es nicht zu tun, doch
es hatte wieder einmal nicht geklappt.
Sie rappelte
sich in ihrem Bett auf und bewegte die Arme wie ein heftig Winkender. Sie fluchte,
während ihre Gelenke knackten. Schmerzen schien sie bei ihren Freiheitsbekundungen
nicht zu haben. Die Bandagen an den Handgelenken hielten. Die Fesseln waren ihr
abgenommen worden, ein Vertrauensvorschuss, der bei der langen Latte ihrer Suizidversuche
auf den ersten Blick leichtfertig erschien.
Aber es
gab einen Grund für ihre Befreiung.
Sie erhob
sich von ihrer Matratze, schwenkte die Beine zur rechten Seite und ließ die Füße
zehn Zentimeter über der Bettkante eine Weile baumeln. Bei einer Körpergröße von
1,45 Meter reichten sie nicht bis zum Boden. Als ihre nackten Fußsohlen festen Grund
berührten und die Last von 43 Kilo tragen sollten, spürte sie die Schwäche in all
ihren Knochen und Organen.
Sie ging
mit ihrem Lebenssaft stets großzügig um, wenn sie sich ins Jenseits verdrücken wollte.
Die ersten
Schritte wirkten marionettengleich. Mitten im Raum blieb sie stehen und sah sich
um. Sie suchte ihre Pantoffeln und fragte sich, ob man sie in der Annahme, dass
sie nicht mehr gebraucht würden, entsorgt hatte. Sie bückte sich und entdeckte sie
unter dem Bett, nicht ordentlich nebeneinandergestellt, sondern wie Clownsfüße im
rechten Winkel zueinander. Mit Bedacht ging sie in die Hocke, ließ sich nach vorn
auf die Knie fallen und rutschte auf dem grauen Linoleum ihren Schuhen entgegen,
die sie nicht der Müllabfuhr überlassen wollte. Wenn sie nicht ins Jenseits durfte,
sollten es ihre Schuhe gefälligst auch nicht.
Als sie
den zweiten Schuh mit ihren Spinnenfingern geangelt hatte, schlenderte Lars Dräger,
ein schwammiger, pockennarbiger Pfleger mit blondem Bürstenhaarschnitt, zur Tür
herein. Emmi roch sein After shave, noch bevor er im Raum war.
»Na, Emmi,
wieder unter den Lebenden?« Er schob die Tür hinter sich zu, ließ sie aber nicht
ins Schloss fallen und verharrte amüsiert mit verschränkten Armen neben dem Waschbecken.
Er drehte sich zur Tür und schaute sich im Flur um, ob ihn jemand beobachtete.
Er machte
keinerlei Anstalten, sich zu bücken, um ihr zu helfen, ihr die Schuhe anzuziehen
und sie zum Bett oder zu einem Hocker zu geleiten. Er stand da und grinste in Anbetracht
jenes Schauspiels, das es in seinen Augen nicht alle Tage zu sehen gab. Er sah,
wie Emmi in ihrem Nachthemd – einem frischen, da man ihr das blutbeschmierte ausgezogen
hatte – auf die Beine kam und ihre Füße in den Hausschuhen verschwanden.
»Die Dinger
haben doch schon lange ausgedient, so wie du. Oder irre ich mich da?« Emilie Braun
registrierte die Boshaftigkeit, parierte sie jedoch nicht. Wenn sie nicht wollte,
sprach sie nicht, schon lange nicht mit solch einem Dreckskerl wie Lars Dräger.
Dafür erschienen ihr Worte viel zu schade, als sie an ihn zu vergeuden. Einmal gesprochen,
waren sie fort wie sich auflösender Rauch.
»Was hast
du bloß immer für ein Schwein?« Dräger schüttelte den Kopf und lachte. »Keine Sau
lässt dich in Ruhe sterben. Dumm gelaufen, was?« Er ging zu ihrem Bett. Er kam um
die Dinge, die getan werden mussten, nicht herum und beschloss, sie so schnell wie
möglich hinter sich zu bringen. Er zog die Bezüge von dem Kissen und der Decke ab
und wandte den Kopf angewidert zur Seite, als er das gelblich genässte Betttuch
abzog. Aufgaben wie diese gehörten auch zu seinem Job, zumindest so lange, bis erledigt
war, was erledigt werden sollte.
»Noch nicht
einmal das Sterben kriegst du auf die Reihe. Immer wieder Adern schlitzen ist doch
langweilig. Eine Tüte überm Kopf funktioniert auch prima oder du sammelst die Pillen,
die man dir gibt, und dann zack – 20 auf einmal. Müsste eigentlich auch klappen.«
Emilie Braun hatte sich zwischenzeitlich auf einen weißen Holzstuhl mit geschwungener
Lehne, der älter war als sie selbst, fallen lassen und sah Dräger bei der Verrichtung
seiner Arbeit zu. Sie hörte jedes Wort, das er sagte, und verstand es auch, doch
was sollte es nützen, darauf zu reagieren. Wem sollte sie von seiner Bosheit erzählen,
seitdem Hans tot war? Dem neuen oberschlauen Psychiater vielleicht oder Anne, die
zwar lieb war, sie aber für genauso verrückt hielt wie jeder andere, der abends
die Station auf dem Weg nach Hause verließ. Er war ja nur böse zu ihr, und das Schlimme
an dem, was er sagte, war, dass er recht hatte. Er
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