Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
wusste es und sie wusste es,
nur wie er es sagte, gefiel ihr nicht. Sie war sich sicher, er würde sich freuen,
wenn es ihrer Seele eines Tages gelingen sollte, die verschlossenen Türen zu öffnen
und die Anstalt zu verlassen. Mit morbidem Humor stellte er sich ihr als Sterbehelfer
zur Verfügung, jedoch nur in ihrem Zimmer, in ihrer alleinigen Gegenwart.
Er raffte
die Bettwäsche zu einem Knäuel zusammen und warf sie ihr vor die Füße. Er stemmte
die Hände in die Hüften und stand mit gespreizten Beinen direkt vor ihr. Nur die
Wäsche war zwischen ihnen. Er genoss es, auf sie herabzusehen. Seine Augen waren
kalt, ohne Liebe.
»Leute wie
du sind zu nichts nütze, pissen sich voll, stinken aus jeder Pore. Verbrauchen Steuergelder
und gehen anderen auf den Wecker. Du und Keller, ihr wart schon so ein Pärchen,
aber das mit Keller hat sich ja jetzt erledigt.« Er lachte verschlagen. »Kannst
ihm ruhig hinterhergehen. Wird dich keiner vermissen, hier und auch sonst wo nicht.«
Emilie sackte auf dem alten Stuhl
in sich zusammen und wirkte noch verlorener als wenige Minuten zuvor. Sie wollte
ja gar nicht am Leben bleiben, soweit stimmte das Gesagte. Oft hatte sie es schon
probiert in ihrem, wie sie fand, viel zu langen Leben. Auf die vielfältigste Weise
hatte sie es versucht, doch irgendwie hatte man sie immer zu früh gefunden oder
reanimiert. Dräger hatte recht, sogar dazu war sie zu dämlich. Warum nur hielt man
sie auf, von dieser Welt zu verschwinden, wo es nichts gab, wofür es sich zu leben
lohnte. Doch jetzt, wo Drägers Hass noch offenkundiger zutage trat als sonst, stieg
Trotz in ihr auf. Ja, sie wollte sterben, aber nicht, wenn Dräger so dringend darauf
bestand. Sie würde ihn mit ihrer Anwesenheit noch eine Weile ärgern, auch wenn dies
dauernde Demütigungen bedeuten würde. Wer war er denn schon, der arme Wicht? Ein
nichtssagender Typ, nach dem sich auf der Straße niemand umsah, den man nicht einmal
bemerkte, und wenn, dann sofort wieder vergaß. Ein Niemand und doch spielte er sich
bei ihr auf, als wäre er eine große Nummer. Emilie stützte den Kopf auf ihre Hände
und dachte nach. Warum hasste er sie bloß so? Gab es jemals ein einziges Wort, das
sie zu ihm gesprochen hatte? Nein, nicht dass sie sich erinnern konnte. Sie kannte
ihn eigentlich gar nicht. Sah ihn nur, wenn er um Professor Keller herumscharwenzelte,
ihm Honig um den Bart schmierte, um gute Beurteilungen zu bekommen. Doch zu ihr
war er feindselig, aus einem Grund, den sie nicht begreifen konnte. Nicht nur eine
Antipathie, wenn, wie man sagte, die Chemie nicht stimmte, sondern blanker Hass.
Doch warum sollte sie es herausfinden? Es lohnte sich nicht, dahinterkommen zu wollen.
So viele Menschen legten keinen Wert auf ihre Existenz, weder damals noch heute
– außer Hans, doch der war tot.
Die Tür wurde aufgeschwungen und
Annegret kam herein. In dieser Sekunde strich Lars zart über das vom Liegen plattgedrückte
Haar seiner Patientin und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick.
Annegret
nickte. »Danke, dass du schon mal das Bett abgezogen hast. Das musstest du doch
gar nicht. Ich dachte, du bist in der Küche.«
»Hey, ich
weiß doch, wie viel du um die Ohren hast. Außerdem wollte ich mal nach unserer Emmi
sehen. Sie ist wieder fit. Super, nicht?«
»Ja, das
ist wirklich toll.« Annegret wandte sich an Emilie, die noch immer auf dem Stuhl
verharrte. »Emmi, wie geht es Ihnen denn? Gut sehen Sie aus.« Die Schwester wollte
es wie eine ehrliche Aussage klingen lassen, blickte jedoch in ein blasses und blutleeres
Gesicht, in dem die blauen Augen aus den Höhlen quollen. In einigen Tagen würde
sie wieder rosa Wangen haben, wenn die Infusionen das Volumen in den Venen und Arterien
aufgefüllt und die roten Blutkörperchen den Mangel an Vitalität ausgeglichen hatten.
»Wir müssen
Ihnen etwas Nettes anziehen. Sie bekommen Besuch.«
Emmi blickte
sie fragend an. Auch Dräger schaute verdutzt.
»Der Kommissar
hat angerufen und sich nach Ihnen erkundigt. Ich hab ihm gesagt, dass es Ihnen gut
geht und er ruhig kommen könne.«
Dräger lachte
kurz auf. Ist echt ’n Witz , dachte er. Ein Bulle aus den 68ern ermittelt
in ’ner Klapse. Hauptzeugin: eine stumme Bekloppte. Echt guter Joke. Joh,
Mann, dann erzähl ihm mal deine Story, Emmi. Glaubt dir sowieso keiner.
Dräger bückte
sich, sammelte die Wäsche zusammen und warf Emmi einen verschlagenen Blick zu. »Tschau,
Anne.«
»Ja, bis
später.« Annegret öffnete den
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