Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
ihre dünnen Spinnenfinger umfassten das Buch wie einen
großen Schatz. Ihr Oberkörper, der mit einer weißen Bluse mit Rüschen bekleidet
war, befand sich in einem rechten Winkel zum Unterkörper, sodass der ganze Mensch
Emilie Braun eine Summe geometrischer Figuren darstellte.
»Hallo,
Frau Braun«, versuchte Martin, in Emilies Welt einzudringen. Erst reagierte sie
nicht, dann nahm sie ein Lesezeichen zur Hand, das neben ihr auf dem Boden lag,
und legte es zwischen die Seiten. Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, das Geheimnisvolles
entdeckt und nun wieder versteckt hatte, und sah zu Martin auf. Ihr Blick war durchaus
freundlich und offen, und als Martin genau hinsah, meinte er sogar, einen feinen
Lidstrich unter den Augen erkennen zu können. Ihr Kopf war leicht geneigt, und den
grauen, lockigen Haaren hatte man eine Wäsche und Wickler angedeihen lassen. Kaum
zu glauben, dass diese Frau schon mehrfach das Jenseits von Nahem betrachtet hatte,
zuletzt erst wenige Tage zuvor. Sie hatte sich schneller erholt, als Martin gedacht
hatte, offenbar war sie geübt darin, sich von ganz unten wieder nach oben aufzurappeln.
»Schön,
dass Sie kommen«, sagte sie mit feiner und gleichmäßiger Stimme. »Es wurde mir langweilig
und da hab ich ein bisschen gelesen.« Ihre Worte klangen nicht anklagend, nur erklärend.
»Tut mir
leid, dass Sie eher mit mir gerechnet haben, aber ich hatte eigentlich gar nicht
vor zu kommen. Zumindest nicht heute, erst morgen.« Ein Niesen unterbrach die Stille.
»Haben Sie
vielleicht ein Taschentuch für mich?«
Mit einer
unerwartet lebendigen Bewegung katapultierte sich Emmi aus der Hocke empor und schlurfte
zu dem Nachttisch neben ihrem Bett. Tatsächlich holte sie eine neue Packung Papiertaschentücher
hervor und reichte sie ihm. Martin bedankte sich, bevor er die nächste Salve herausprustete.
Emmi grinste. Sie trug ihre Zahnprothese, sehr zu Martins Freude.
»Irgendwie
habe ich heute Morgen nach dem Aufwachen gespürt, dass Sie kommen. Ich krieg ja
nicht oft Besuch, eigentlich nie, deshalb habe ich mich ein wenig herausgeputzt.«
Martin drehte
sich zu ihr um und betrachtete die Mimik, als sie das Wort ›herausgeputzt‹ verwendete.
Es klang aus ihrem Mund nicht so, als würde sie es oft benutzen, sondern eher so,
als hätte sie es irgendwo gelesen und vermutete, dass es nun passen würde, um es
an den Mann zu bringen.
»Sind Sie
fertig?«, fragte Emmi, als seien sie verabredet gewesen und hätten es nun eilig,
irgendwo hinzukommen.
»Wofür?«,
fragte er.
»Kommen
Sie mit. Ich will Ihnen was zeigen. Wird Sie interessieren.« Emmi ging an Martin
vorbei und öffnete die Tür. Davon ausgehend, dass Martin ihr folgen würde, stakste
sie voran, vorbei am Schwesternzimmer, vorbei an Paule, der brav patrouillierte
und sich gottlob nicht bewegte. Vorbei an verschiedenen Patienten in Bademänteln
oder Nachthemden oder mit absurder Kleidung der Caritas in unglaublichen Kombinationen.
Manche von ihnen standen im Gang herum, blickten ihnen apathisch nach, andere wiederum
sahen durch sie hindurch, in ihrer eigenen Welt gefangen, in der es ihnen aber offensichtlich
ganz gut ging, denn sie wirkten keineswegs deprimiert.
Über einen
langen Korridor gelangten sie zu einer Tür, neben der ein Schild mit der Aufschrift
›Bibliothek ‹ prangte. Allmählich dämmerte es Martin. Emmi wollte ihm ihr
Allerheiligstes zeigen, den Ort des Wissens, den Platz, an dem sich die Seelen der
Schriftsteller, Philosophen und anderer Verrückter nach ihrem Tod trafen und sich
Weisheiten und Erkenntnisse zuflüsterten. Emmi strahlte und hielt Martin die Tür
auf. Nachdem er den Raum betreten hatte, schloss sie die Tür hinter ihm zu. Er wusste,
dass sie nicht zu Gewalttätigkeiten neigte, ansonsten wäre es ihm mulmig zumute
gewesen, mit einem Patienten eines derartigen Etablissements allein in einem Raum,
fernab von jeglichem Pflegepersonal und Wärtern, unruhige Minuten verbringen zu
müssen.
Seitdem
sie ihr Zimmer verlassen hatten, hatte Emmi nicht gesprochen, und Martin dachte
sich, dass sie den Zeitpunkt wählen würde, an dem sie sich der Außenwelt
öffnete.
Die Bibliothek
war ein schmuckloser Raum, ganz im Stil der gesamten Klinik. Weiche Farbtöne an
den Wänden, der knatschende Linoleumboden unter den Füßen, kein zu öffnendes gitterloses
Fenster, zwei einfache Tische mit Stühlen davor in der Mitte des Raumes. Dann gab
es noch einen Rollwagen mit zwei Etagen, der, ähnlich wie in Gefängnissen, die
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