Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
die Arme in die ausladenden
Hüften und wirkte in seinem Bestreben, nicht jedermann nach Belieben hier ein- und
ausgehen zu lassen, sehr entschlossen.
Martin überlegte,
was er tun sollte. Er könnte ihn anfassen und ihn sanft zur Seite schieben. Doch
was wäre, wenn der Kleine anfangen würde zu schreien, wie jemand, dem man größte
Schmerzen zufügte. Vielleicht würde er wütend werden und mit bösartiger Absicht
auf ihn losgehen, nicht wie Paule, den man mühelos als großes, nie erwachsen gewordenes
Kind identifizieren konnte.
»Wie heißen
Sie?«, fragte Martin leise, um zu verhindern, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren.
»Was? Sie
kennen mich nicht?«, empörte sich der Kleine. »Das wundert mich. Jeder hier kennt
mich. Die ganze Welt kennt mich.« Der Kleine konnte es schier nicht fassen, dass
man nicht gleich ein Autogramm von ihm erbat. Doch er zeigte sich großmütig. »Na
gut, Sie sind neu.« Der Kleine stellte die Füße nebeneinander und streckte den ganzen
Körper. »Wenn ich mich vorstellen darf. Ich heiße Karl. Karl Lagerfeld. Ich bin
für die korrekte Bekleidung aller meiner Mädchen und Jungs verantwortlich. Wenn
jemand Rat braucht«, Karl hob die Arme wie zu einer Umarmung empor und entblößte
seine blank geputzte Zahnreihe, »dann bin ich da. Und jeder hier braucht meinen
Rat in allen Modebelangen, das wird Ihnen noch auffallen.« Karl kraulte einen nicht
vorhandenen Bart, stützte den einen Arm auf dem anderen auf und musterte Martin
vom Scheitel bis zur Sohle. »Ich bewohne eine Suite am Ende des Flures. Wenn Sie
einen Termin brauchen – und ich glaube, den brauchen Sie dringend –, lassen Sie
sich von meiner Sekretärin einen geben.« Martin grinste und nickte. Jetzt sah er
seine Chance und strebte an Karl vorbei.
»Okay, Karl,
ich schätze, das mache ich. Wir sehen uns.« Karl winkte mit seinem kurzen rechten
Arm und watschelte in die andere Richtung davon. Martin sah ihm nach, als ihm eine
zierliche Hand auf die Schulter klopfte. Annegret hatte ihn entdeckt. »Na, ein paar
Modetipps eingeholt? Er macht das prima, nicht?« Martin drehte sich um und sah in
Annegrets blaue Augen.
»Hi. Oh
ja. Warum nennt ihr ihn nicht Danny? Finden Sie nicht, dass er Danny de Vito bis
aufs Haar gleicht?« Die Schwester wurde todernst und legte die Stirn in Falten.
»Das ist de Vito. Wurde hier eingeliefert, weil er sich für Karl Lagerfeld hält.
Wussten Sie nicht, dass Danny de Vito deutsche Vorfahren hat und fließend Deutsch
spricht?« Annegret blieb ernst und wartete. Nicht ein Schmunzeln verriet sie, sodass
Martin für einen Augenblick glaubte, dass er den echten Komiker getroffen hatte.
Annegret konnte die Maskerade nicht lange aufrechterhalten und prustete los. »Tut
mir leid, so bin ich halt.« Wieder lachte sie, und Martin sah sie an, wie sie scheinbar
für Sekunden vergaß, wo sie sich befand. Eine effektive Methode, in diesem Job
nicht depressiv zu werden , dachte er.
»Wieder
zu Emmi heute?«
»Ja. Ich
habe noch Fragen an sie. Und ich muss mich im Büro von Professor Keller umsehen.«
Annegrets Gesicht verlor jegliche gesunde Farbe und versteinerte. Martin entging
nicht, wie blass sie wurde.
»Sie haben
Keller als Erste gefunden, stimmt’s?« Annegret nickte und sah zu Boden. Sofort flackerten
ohne Aufforderung die Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Das viele Blut, der zerschossene
Kopf, der bespritzte Abschiedsbrief, der vor dem Toten lag.
Martin griff
sie mitfühlend am Arm. »Wollen wir uns hinsetzen?«
Die Schwester
drehte sich um und ging voran. Sie betraten einen Wartebereich, ähnlich wie der
einer Arztpraxis. Sie setzte sich auf den ersten Stuhl neben der Tür. Sie wischte
ihre Hände auf den Knien ab. Sogleich fing sie an zu sprechen, obwohl sie Martin
noch nicht zum Weiterreden aufgefordert hatte. »Ich kann es immer noch nicht glauben«,
begann sie theatralisch. »Ich bin an dem Tag früher zur Arbeit gekommen, weil ich
eh nicht mehr schlafen konnte, und hab Licht in seinem Büro gesehen. Kurz danach
trafen auch die anderen ein, der Lars, Michael und Dr. Schulz, der eine Famulatur
in der Psychiatrie machte.«
»Wer ist
Michael? Ein Pfleger?«
»Genau.
Wie Lars.«
»Was genau
passierte an diesem Tag? Können Sie sich noch erinnern?«
»Das habe
ich doch schon alles Ihrem Kollegen erzählt.«
»Wissen
Sie noch, wie der hieß?« Pohlmann gewährte Annegret eine kleine Pause, ließ sich
jedoch von seiner Ungeduld treiben. »Schöller? Klaus Schöller?«
»Ja,
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