Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
zurückgerissen. Nur zehn Meter vor seiner
Veranda wirbelte die Flut den feinen Sand auf, brachte kleine, exotische Muscheln
mit, die am nächsten Morgen wieder verschwunden waren. Er liebte das Meer und konnte
sich nicht vorstellen, wie man leben könne, ohne es einmal gesehen zu haben.
»Ja, vielleicht«,
murmelte er. »Vielleicht zeige ich Ihnen mal das Meer.«
Kapitel 27
Hamburg-Norderstedt, 8. November
2010
»Ach, hier stecken Sie. Ich hätte
es mir denken können.« Annegret steckte den Kopf zur Tür herein und fand Emilie
ein weiteres Mal an ihrem angestammten Platz vor. Auf dem Boden sitzend, mit einem
Buch in der Hand. Doch diesmal fand sie sie heiter vor, nicht deprimiert wie meistens,
wenn man sie hier entdeckte.
Wann immer
man Emilie in Begleitung ihrer Bücherfreunde aufspürte, führte sie ein intensives
Zwiegespräch mit ihnen. Zum einen mit den Autoren. Sie diskutierte mit ihnen, warum
sie manches so und nicht anders geschrieben hatten. Verdammte in Gedanken die Adjektive
und Adverbien aus dem Text und ersann dafür kräftigere Substantive und wählte Verben,
die die Aussagen lebendiger erscheinen ließen.
Darüber
hinaus empfand sie voller Empathie mit den Figuren, die gnadenlos durch unzählige
Konflikte getrieben wurden, weinte mit ihnen und lachte mit den Helden, die glorreiche
Siege errangen. Die Geschichten in den Büchern waren für sie so real, dass sie all
ihre Gefühle in sie hineininvestierte. Sie kämpfte mit den Guten und verfluchte
wutentbrannt die Bösen, und hatte sie die letzte Seite zugeschlagen, wachte sie
aus diesem Traum auf und griff nach dem nächsten Buch. Die Zeit dazwischen dachte
sie über die Dinge nach, die den Menschen zwischen den Buchdeckeln widerfahren waren.
Und so ließ sie sich von einer Geschichte zur nächsten treiben und verbrachte die
Jahre mit nichts anderem als mit Lesen. Bis sie eines Tages selbst beschloss, all
ihre Tagebucheinträge, die sie zeitlebens zu Papier gebracht hatte, zu sortieren,
zu überdenken, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Fragmente davon hingen
an der Wand ihres Zimmers. Schließlich begann sie, alles in einer ledernen Kladde
mit Seiten ohne Linien fein säuberlich aufzuschreiben. So wie viele Menschen außerhalb
der Mauern hatte auch Emilie einen Traum und der bestand darin, etwas Bedeutendes
zu erschaffen. Vielleicht nicht bis zur Ewigkeit reichend, doch über ihren so oft
selbst gewählten Tod hinaus hätte ihr schon genügt. Prosa zu erschaffen, die so
in dieser Form noch nicht da war. Und diese Prosa lag derzeit auf Martin Pohlmanns
Nachttisch und wartete auf ihn. Doch bevor er sich der Lektüre von Emilies Buch
widmen konnte, hatte er eine weitere Aufgabe zu erledigen. Er musste Fragen beantworten
und zwar schnell.
Dafür, dass
er es eilig hatte, verbrachte er erstaunlicherweise viel Zeit im Gespräch mit dieser
alten Frau, die ihn anfangs angewidert hatte, deren Geruch er kaum ertragen konnte
und deren Anwesenheit in seinem Leben ihn störte wie ein lästiger, ungebetener Eindringling.
Doch das Empfinden dieser Person gegenüber, die zwar in einer Nervenheilanstalt
lebte und auch sicherlich als sonderbar zu bezeichnen war, hatte sich so leise verändert,
dass er es kaum wahrgenommen hatte. Nein, er verachtete sie nicht mehr. Stattdessen
konnte er kaum fassen, dass es Menschen gab, die noch nie in den Genuss salziger
Meeresluft gekommen waren, die noch nie dem Rauschen der Brandung gelauscht hatten,
sich noch nie von ihr in einen friedlichen, tranceähnlichen Zustand hatten versetzen
lassen. Er spürte, wie der eigenartige Wunsch in ihm aufstieg, Emmi vor ihrem Tod
daran teilhaben zu lassen. Er wunderte sich über diese Regung und als er sich in
der Bibliothek an der Tür noch einmal umdrehte, sah er, wie die Krankenschwester
Annegret liebevoll ihrer betagten Patientin aufhalf, ihr den losen Schmutz des Bodens
vom Rock klopfte und sich bei ihr einhakte, um sie zu ihrem Zimmer zu begleiten.
Eine kleine Weile blieb Pohlmann regungslos in der Bibliothek stehen. Emilie, die
einen Kopf kleiner als Annegret war, sah zu ihr über die Schulter hinauf und flüsterte
ihr leise zu: »Er will mir das Meer zeigen.« Annegret hörte die kindliche Erregung
in diesem Satz heraus. »So? Will er das?« Annegret drehte sich zu Martin um und
bedachte ihn mit einem fragenden Blick.
»Ich muss
mich noch in Professor Kellers Büro umsehen. Würden Sie es mir bitte zeigen?«
Annegret
und Emilie tippelten durch die Tür der
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