Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Literatur
wie Essen auf Rädern zu den lesewilligen und des Lesens mächtigen Patienten brachte.
Was es reichlich
gab, waren Bücher.
Emilie schritt
bedächtig und mit großer Ehrfurcht eine lange Regalreihe entlang. Sie begann an
der linken Wand und ging wie in einer Prozession Buch für Buch ab. Sie hob ihre
linke Hand und streifte mit den Fingern die Buchrücken, während sie weiterging.
Sanft und andächtig schaute sie an dem Regal empor, und ein sonderbares Leuchten
loderte in ihren Augen. Ganz nahe kam sie den Büchern, als wolle sie ihnen etwas
zuflüstern oder als würde sie an sie gerichtete Botschaften daraus vernehmen.
»Sie sind
oft hier, nicht?«, unterbrach Martin die Stille.
»Ich hab
sie alle gelesen«, sagte sie leise, als spräche sie mit sich selbst, doch gerade
laut genug, dass jemand in der Nähe sie verstehen konnte. Vielleicht wollte sie
es aber auch nicht angeberisch klingen lassen, an die 600 bis 700 Bücher gelesen
zu haben. Martin überschlug die Anzahl der Regale und multiplizierte sie mit der
Menge der darin übereinandergestellten Bände. Obgleich nie ein Matheass, kam er
auf über 850 Bücher.
Ein erstauntes
Wow entwich ihm. »Wirklich alle?«
Emilie antwortete
nicht auf Martins Zweifel. Es war ihr egal, ob er ihr glaubte. Die Bücher wussten,
in wessen Hand sie gelegen hatten, und das reichte ihr.
Als die
andächtige Prozession beendet war, wandte sich Emmi ihrem Besucher zu und wirkte
wie ein kleines Mädchen, das eine Eins in einem ihrer Schulfächer mit nach Hause
gebracht hatte.
»Das ist
ziemlich beeindruckend. Ich glaube nicht, dass ich am Ende meines Lebens so viele
Bücher gelesen haben werde.«
»Wer weiß?
Ist ja noch nicht zu Ende. Ich hatte viel Zeit. Hab die letzten 30 Jahre hier verbracht.«
»So viel
bedeuten Ihnen Bücher?« Martin staunte über die Entscheidung eines Menschen, sich
lieber mit toten Buchstaben als mit Menschen abgeben zu wollen. Es sei denn, es
gab einen triftigen Grund für dieses Verhalten.
Wie als
hätte er Emmi gefragt, lieferte sie ihm die Antwort. »Hier tut mir keiner weh. Hier
bin ich sicher.«
»Frau Braun,
ich glaube nicht, dass Ihnen in diesem Krankenhaus etwas passieren kann«, protestierte
Martin.
»Vielleicht
nicht in diesem, obwohl …, aber dafür in allen anderen, wo ich war.« Martin erinnerte
sich an die Einträge in Emilies Kladde, an deren finstere Gedichte und Andeutungen,
die sie selbst kaum auszusprechen wagte. Und doch schien sie heute wieder bereit
zu sein, sich für ihn zu öffnen, und er wollte diese Gelegenheit nicht ungenutzt
lassen.
Emmi ging
zu einer Regalreihe und schaute hinauf. »Hier leben Menschen, die Schlimmeres als
ich durchmachen mussten.« Dann ging sie einen Schritt weiter. »Hier, zum Beispiel
der hier«, Emilie zog ein Buch von einem Mann namens Gregor Woitsynski hervor und
hielt es ihm hin, »wurde im Krieg beinahe von den Nazis getötet, lag halbtot in
einem Graben unter einem Kameraden und hat nur deshalb überlebt, weil alle Kugeln
im Körper seines Freundes stecken geblieben sind.« Martin verzog das Gesicht.
»Er hat
alles aufgeschrieben und jetzt lebt er hier, bei mir, und ruht sich aus.« Emmi schob
das Buch behutsam an seinen angestammten Platz zurück und blickte Martin in die
Augen. Dann ging sie in die Hocke, setzte sich auf den Fußboden und lehnte dabei
mit dem Rücken an den Büchern. Einen Augenblick schloss sie die Augen, dann sah
sie wieder zu Martin auf und klopfte mit der rechten Hand auf den noch freien Platz
neben sich. Sie verschmähte den Tisch mit den drei braunen Stühlen und suchte die
Nähe ihrer Literaten. Sie ist eben doch ein wenig sonderlich , dachte Martin,
störte sich aber nicht an dieser anderen Form des Sitzens und hockte sich neben
sie. Wieder lagen ihre Beine perfekt nebeneinander, und die Schuhspitzen ragten
zur Decke.
Martin suchte
nach einem Gesprächsanfang. Fragen hatte er genug, doch welche sollte es zuerst
sein?
»Wie geht
es Ihnen heute?«, begann er und fand diese Frage derart bescheuert, dass er sofort
eine weitere hinterherschob. »Haben Sie den Brief des Professors wiedergefunden?«
Emmi blickte zur verschlossenen Tür.
»Ich weiß
jetzt, dass er auf meinem Buch lag. Ich habe noch einmal ganz feste darüber nachgedacht
und ich bin mir sicher, dass er da war. Jemand muss ihn weggenommen haben, bevor
man mich gefunden hat.«
»Haben Sie
eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
»Bestimmt
dieser Fiesling Dräger.«
»Warum,
meinen Sie,
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