Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Bibliothek, die Martin ihnen aufhielt.
»Klar«,
gab Annegret zurück. »Emmi braucht ihre Medikamente, danach zeig ich es Ihnen.«
Martin nickte und sah dem ungleichen Pärchen hinterher.
*
Annegret schloss Martin Pohlmann
das ehemalige Büro von Professor Hans Keller auf. Es war seit dessen Tod nicht wieder
geöffnet worden. Das Licht drang durch die Jalousien, und der Staub in der Luft
leuchtete wie Plankton.
Natürlich
hatten Schöller und die Spurensicherung darin herumgewühlt, so getan, als wüssten
sie, wonach sie suchen müssten. Als verstünden sie etwas von dem Job eines Ermittlers,
eines Spürhundes.
In dem Moment,
als Martin das Büro betrat, überließ ihn Annegret seiner Arbeit. Es war gegen 18
Uhr; Essenszeit und Medikamentenausgabe. Manche mussten gefüttert werden, da sie
nur lethargisch vor dem Teller saßen und verhungert wären, hätte man sich nicht
ihrer angenommen. Andere hampelten wie kleine Kinder auf ihren Stühlen hin und her
und mussten angebunden werden. Der Lärmpegel in dem Speisesaal war beträchtlich,
und Martin war froh, die Tür des Büros hinter sich schließen zu können. Er wollte
in diesem Raum unbedingt allein sein, um die Ohren für die Stimmen frei zu halten,
die nur einsam und leise wahrgenommen werden konnten. Feine Eindrücke, die all seine
Sinne forderten.
Er stand
drei Minuten bewegungslos hinter der geschlossenen Tür und blickte in den Raum hinein.
Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Gedanken, die nicht angenehm für ihn waren,
aber dafür waren sie wichtig. Ich kenne diesen Raum. Vermutlich sehen sie alle
gleich aus, diese Büros von Psychiatern. Wie lange ist es her? Zwei Jahre? Fast
drei? Diese Zertifikate an den Wänden … Ich kenne sie alle, sie sehen alle gleich
aus. Eine vertrauensbildende Maßnahme für den Patienten, der seinen Therapeuten
unter den Auszeichnungen wie unter einem Heiligenschein sitzend sieht und ihm die
Unfehlbarkeit zuspricht. Zumindest hofft er das, denn wer sollte ihm sonst helfen?
Die Scherben der zerbrochenen Seele wieder zusammenzuflicken wie ein Puzzle, bei
dem einige Teile fehlen und nach denen man gemeinsam sucht. Hat er meine fehlenden
Teile gefunden, damals? Ich glaube nicht.
Martin schüttelte
den Kopf und die Gedanken darin kräftig durch. Er bemerkte, dass seine Augen feucht
waren und schrieb es der Erkältung und nicht den Gedanken an Sabines Tod zu, die
in regelmäßigen Abständen in ihm hochkamen.
Es geht
nicht um mich, verdammt noch mal. Konzentrier dich. Was siehst du hier? Wer hat
hier gelebt und gearbeitet? Ein Mensch, der fähig war, jemanden zu töten, und der
sich schließlich zwei Jahre später vor Gram selbst umgebracht hat, obwohl die Patienten
seiner bedurften? Wer war Professor Keller wirklich? Was hat ihn beschäftigt? Was
hat ihn angetrieben?
Martin schlich
wie eine Katze in dem Raum umher. Die Tür war geschlossen und die Jalousien zum
Flur hin zugezogen. Er war allein und doch trieb ihn das Gefühl um, er wäre es nicht.
Als würde man ihn beobachten, aus einem Winkel heraus, zwischen den Lamellen der
Jalousien hindurch. Schweißperlen sprossen aus den Poren auf seiner Stirn hervor
und mit einem großen Schritt war er am Fenster, riss viel zu ungestüm die Lamellen
auseinander und blickte hinaus auf den Flur. Natürlich ging der eine oder andere
an seinem Fenster vorbei, doch ohne wirklich Notiz von ihm zu nehmen.
Er schüttelte
seine Paranoia ab, fasste sich an die feuchte Stirn und meinte, mehr als die normale
Körperwärme dort zu ertasten. Er versuchte, sich wieder auf die eigentliche Aufgabe
zu konzentrieren. Er beschloss, systematisch das Büro zu durchforsten. Also setzte
er sich an den Tisch, an dem der Professor gestorben war. Es war ihm unangenehm.
Er kam sich wie ein Einbrecher vor und erwartete jeden Moment, Professor Keller
hereinkommen zu sehen, der ihn fragte, was er hier zu suchen hätte.
Martin knipste
das Licht einer Lampe an, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Er mochte diese
englischen Lampen mit grünen Glasschirmen. Er hätte gern einmal eine besessen.
Mit Bedacht
zog Martin die erste der insgesamt vier Schubladen auf. Dort schien der Professor
eine gewisse Unordnung zugelassen zu haben, denn ansonsten war das Büro aufgeräumt
und sauber. Martin kramte in dem Schubfach herum und schob Radiergummis, Bleistifte,
Füller und Kugelschreiber hin und her. Am Boden des Faches war ein tennisballgroßer
blauer Fleck einer ausgelaufenen Lamy-Tintenpatrone, die
Weitere Kostenlose Bücher