Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
blickte an den Regalen hinauf und bewunderte
das große Maß an Wissen, das zwischen diesen Buchdeckeln schlummerte. Da standen
die typischen blau-weißen medizinischen Thieme-Bücher, die sich in jedem Arbeitszimmer
eines Arztes finden ließen. Eine weitere Reihe war vollgestellt mit alten Bänden
mit dunkelbraunen Einbänden, größtenteils auf Englisch. Das nächste Regal ächzte
unter der schweren Last verschiedener Anatomieatlanten. Gleichwohl nicht für den
täglichen Dienst eines Psychiaters vonnöten, schien Professor Keller ein Sammler
medizinischer Literatur verschiedener Epochen gewesen zu sein. Jemand, der Freude
daran hatte, ein Buch hervorzuziehen, nicht, um es zwingend zu lesen, sondern, wie
es bibliophile Menschen taten, es anzuschauen, zu halten und darüber zu streichen.
Jemand, der keine Bücher liebte, mochte über solch ein Verhalten nur den Kopf schütteln,
doch Martin erahnte, dass Emilie Braun und Hans Keller eine gemeinsame Leidenschaft
verbunden hatte.
Am Rand
des Regals, zur Raumecke hin, dort, wo ein mächtiger Ohrensessel stand, fand er
eine weitere Reihe von Büchern, die mit Medizin nichts zu tun hatten. Sein Blick
wanderte über an die hundert Bücher, die sich mit der NS-Zeit beschäftigten. Angefangen
beim Ersten Weltkrieg bis hin zur Entstehung des nationalsozialistischen Gedankenguts
und seiner perversen Auswirkungen. Bücher, die den Genozid abhandelten, und solche,
die sich mit Rassenfragen beschäftigten. Über die Mendelsche Erblehre fand er vier,
fünf Bücher, die, wie er aus dem Geschichtsstudium noch wusste, als eine von mehreren
Grundlagen zur Entwicklung des arischen Rassengedankens herhalten musste. Armer
Gregor Mendel , dachte Martin. Der Mann würde sich im Grabe umdrehen, wüsste
er, zu welch perversen Gedanken seine Lehren missbraucht worden waren.
In derselben
Reihe fand Martin Bücher, die seine Aufmerksamkeit erregten: Literatur über die
sogenannten Lebensbornheime. Abhandlungen neueren Datums, aber auch 40, 50 Jahre
alte Bände, ebenfalls in englischer und deutscher Sprache.
Martin wusste,
dass Professor Keller eine Koryphäe auf diesem Gebiet und als Gutachter vor Gericht
erschienen war. Darüber hinaus war er es ja gewesen, der das Ansinnen ehemaliger
Lebensbornkinder, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, tatkräftig unterstützt hatte.
Er förderte deren Engagement, in diversen Archiven nach ihren Vätern und Müttern
zu suchen. Doch warum er dies tat, wusste Martin noch nicht. Und fragen konnte er
ihn nicht mehr, also musste er hier nach Antworten suchen, an dem Ort, wo der Gelehrte
den größten Teil seiner behandlungsfreien Zeit verbracht hatte. Nicht in seiner
Wohnung, sondern hier, wo die Essenz seines Lebens konserviert wurde.
Martin zog
einen Band hervor mit der Überschrift: Deutsche Lebensbornheime zwischen 1935 und
1945. Er öffnete das Buch und machte Anstalten, sich in den Ohrensessel zu setzen.
Einen Moment lang hielt er inne, während er sich die Sitzgelegenheit anschaute.
Alles passte in diesem Büro zusammen, wie der Sessel zum Rest des Mobiliars. Er
war, wie er kurze Zeit später feststellte, mit braunem, weichem Leder bezogen, und
die abgeschabten, blanken Kupfernieten traten in dem Dämmerlicht wie neugierige,
glänzende Augen hervor.
Ja, er wagte
es, sich mit dem Buch in der Hand zu setzen und zu hoffen, dass das Buch, der Sessel
oder irgendetwas anderes im Raum zu ihm sprechen würde, um das große Rätsel des
Todes von Hans Keller ein Stück mehr zu lüften.
Kapitel 28
Der Mörder stand vor dem Spiegel
in seinem häuslichen Bad und bewunderte sich. Er griff nach dem Rasierapparat und
begann, sich wie jeden Morgen zu rasieren. Ein älteres Modell mit einem Stromkabel
daran. Während er in das bleiche Gesicht mit den grau-braunen Augen starrte, regte
sich keinerlei Skrupel in ihm. Er erlebte eine aufregende Zeit, er erfüllte eine
wichtige Mission, in der das Gewissen kein Stimmrecht besaß. Er kämmte sich das
volle Haar, und wieder gefiel er sich. Hätte man jemand Objektiven gefragt, wäre
das Urteil unter Umständen nicht derart mild ausgefallen. Manch einer hätte gesagt,
er sei unförmig, ein anderer würde ihn als profillos bezeichnen, ein dritter schlichtweg
als hässlich. Doch er gefiel sich nicht deshalb so gut, weil er sich an Äußerlichkeiten
maß, sondern weil er sich für wichtig hielt. Er hatte in einem Spiel der Mächtigen
nach so vielen Jahren endlich Bedeutung erlangt. Dies zumindest wollte man ihn
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