Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
andererseits übermannte ihn in rhythmischer Gleichmäßigkeit das Gefühl der
Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ein Serienkiller trieb sein Unwesen, und es lag in erster
Linie an ihm zu verhindern, dass es weitere Opfer geben würde. Wer würde der Nächste
sein? Emilie Braun, der ehemalige Priester Alois Feldmann, Rohdenstock oder gab
es weitere auf der Liste des Mörders, die er bisher noch nicht kannte?
Dass er
selbst im Visier eines mordlüsternen Killers stand, ahnte Pohlmann nicht im Geringsten.
*
Nach einer Weile des Umherwälzens
und Grübelns schaltete Martin gegen 0.30 Uhr das Licht wieder an. Eigentlich war
er todmüde und bis zur Halskrause mit Medikamenten abgefüllt. Er hätte dringend
Schlaf gebraucht, denn am nächsten Tag wollte er früh aufstehen und nach Berlin
ins Bundesarchiv fahren, doch sein Kopf ließ ihm keine Ruhe. Zu viele Fragen und
zu wenige Antworten. Außerdem rückte der Termin der Ehrenfeier für Professor Keller
unaufhaltsam näher. War Keller nun ein Täter oder ein Opfer? Wer war er überhaupt?
Ein Psychiater mit einem ausgeprägten Sinn für historische Recherchen, die er quasi
als Hobby betrieb, oder gab es dort Motive, die wesentlich tiefer verborgen lagen,
in einer dunklen Vergangenheit, die darauf wartete, belichtet zu werden?
Und wer
war Emilie Braun alias Hedwig Strocka, die Tochter eines Nazis, der einen grausamen
Tod in einem Hotelzimmer gefunden hatte? Angeblich von ihrem Therapeuten umgebracht,
und doch sprach Emilie davon, dass es möglich sein könne, dass es nicht der Professor
war, sondern sie selbst. Immerhin war auch sie während der Prozesstage in jenem
Hotel eingecheckt und lebte ihr Leben unter geistig kranken Menschen. Wie ernst
ihr Krankheitsbild tatsächlich war, konnte Martin nicht beurteilen. In diesem Moment
fiel die Kladde von Frau Braun in seinen Blick und zögerlich griff er danach. Er
hatte die ersten 200 Seiten gelesen und sich mit jeder Zeile mehr gewundert, wie
klaffend jener Spalt war, der sich zwischen der Realität der Person, die diese Seiten
verfasst hatte, und dessen, was dort geschrieben stand, auftat. Vor allem erschien
verwunderlich, wie es geschrieben war. Eine prosaisch verfasste Lebensgeschichte,
eine Sammlung von düsteren Gedichten und kurzweiligen Episoden sowie tragischen
Berichten von seelischen und körperlichen Misshandlungen. Emilie erzählte von Experimenten,
die an ihr vorgenommen worden waren, doch sie beschrieb sie so, als hätten sie nicht
an ihr selbst stattgefunden. Emotionslos und nüchtern berichtete sie, wie Elektroden
an ihrem Körper befestigt wurden und der Strom so lange durch den kindlichen Körper
floss, bis sie bewusstlos wurde. Dass sie bereits tot war und man sie durch Elektroschocks
wieder ins Leben zurückgeholt hatte, wusste sie nicht. Wie viel kann ein kindliches
Herz aushalten, ab welcher Stromstärke hört es auf zu schlagen? Wie viel Ampere
sind nötig, um es wieder zum Schlagen zu bringen? Wie lange kommt das Gehirn ohne
Sauerstoff aus, bevor Schwachsinn eintritt?
Emilie wusste
nichts von derlei menschenverachtenden Motiven, die die Versuche, die Mediziner
an ihr angestellt hatten, darstellten. Nichts von dem, was in ihrem Leben geschah,
verstand sie. Dass sie ohne Vater und Mutter aufwachsen musste, ohne die Liebe eines
Elternhauses und ohne Perspektive auf ein normales Leben als Mädchen und Frau. Das
Einzige, was sie wusste, war, dass es einen Ort auf der Welt gab, an dem sie so
etwas wie Frieden empfand, und dies war der Ort der Geschichten.
Das Lesen
und Schreiben hatte man ihr halbherzig beigebracht, mehr aus wissenschaftlichen
Ambitionen heraus, um herauszufinden, wie viel Intelligenz nach all den Versuchen
noch verblieben war. Den Rest brachte sie sich selbst bei. Wann immer sie ein Buch
in die Hand bekam, hütete sie es wie einen Schatz. Ein Buch war für sie die Essenz
des Lebens, eine Insel, auf der sie allein war, nur sie und die Figuren, denen sie
zusah, wie sie liebten und lachten, hassten und weinten, fluchten und starben. Trotz
all der Ablehnung und Verachtung, die sie gegen sich gerichtet erfuhr, blieb sie
zäh am Leben. Sie weigerte sich aufzugeben, dem Lockruf des Todes zu folgen, der
Wissenschaft einen Dienst zu erweisen und ihr Gehirn in hundert Scheiben schneiden
zu lassen.
Kapitel 31
An diesem Abend betrat der Mörder
fluchend seine spartanische Bleibe. Er vermied es, in der Nachbarschaft aufzufallen,
obgleich das Gebiet dünn besiedelt war. Die Nebenstraße, in der
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