Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
daran. »Es war ein gruseliges Wetter, fast so wie am heutigen Abend. Wir waren von Spinas her aufgestiegen …«
»So, wie heute«, warf Böhringer ein und griff zur Karaffe.
»… und hatten den Plan, am nächsten Tag über den Gletscher und dann über den Kamm hinüber nach St. Moritz zu laufen«, vollendete Traunhof.
»Wer sind wir ?«, fragte Stephan. Er merkte intuitiv, dass er sich einbringen musste.
»Der Lutz, der Gereon und ich«, antwortete Traunhof. »Drei Freunde, die sich schon aus ihrer Schulzeit kannten und beschlossen hatten, eine Wandertour zu machen.«
Böhringer füllte alle Gläser randvoll.
»Doch aus der Wanderung wurde nichts«, fuhr Traunhof fort. »Das Wetter machte einen Strich durch die Rechnung. Und so saßen wir auf dieser Hütte fest. Drei Tage lang. Und nachdem alle Gesellschaftsspiele gespielt und schon mehrere Weine verköstigt worden waren, hoben wir irgendwann abends die Idee aus der Taufe, einen kleinen, aber durchaus elitären Club zu gründen, der sich vor allem eines auf die Fahne schreiben sollte: die bedingungslose Solidarität unter- und zueinander. Heute reden alle vom Networking. Aber das ist nur eine Phrase, die häufig ohne jede Qualitätsmerkmale Menschen untereinander locker verbindet. Davon hat man nichts.«
»Wir sind anders«, übernahm Böhringer. »Es sollten nur die wirklich Guten und Wertvollen miteinander verbunden werden.« Er hielt inne und warf Stephan einen prüfenden Blick zu, doch Stephan erkannte das Manöver und nickte verständig.
»Wir folgen einfach der Tatsache, dass diejenigen, die in der Gesellschaft Leistung erbringen, auch nur von ebensolchen etwas erhalten werden«, untermauerte Traunhof den theoretischen Ansatz. »In keiner Gesellschaft funktioniert auf Dauer das Prinzip der Gleichmacherei, denn es führt zu der Konsequenz, dass die Leistungsträger die anderen ziehen müssen und umgekehrt jene anderen die Leistungserbringer aussaugen.«
Stephan blickte nur auf das vor ihm stehende Glas Wein und nippte schließlich daran. Die leiernden pseudowissenschaftlichen Ausführungen von Traunhof und Böhringer waren ihm schon aus Trosts Monologen bekannt. Würde es an diesem Abend nur um die ebenso elitären wie abwegigen Theorien gehen, hätte Stephan Lust gehabt, sich ungehemmt dem Veltliner hinzugeben, doch er blieb auf der Hut.
»Also wurde hier die Idee der ›Zehn‹ geboren«, kürzte Trost ab. »Wobei die Begrenzung der Mitgliederanzahl und der daraus abgeleitete Name erst viel später überlegt worden sind. Doch wir haben hier gewissermaßen die Statuten unserer Gruppe festgelegt, die auf den Eckpfeilern der beruflichen Qualifikation, dem lauteren Charakter und dem Einstandswillen unserer Mitglieder ruhen.«
»Exakt, so ist es«, bestätigte Traunhof, führte das Glas zu seinem Mund, schmeckte und gurgelte den Wein, bevor er ihn genussvoll durch seine Kehle gleiten ließ. »Gaudeamus igitur«, vollendete er.
Stephan stellte sich Traunhof vor, wie er vor einigen Tagen in Elisas Kinderwagen gestarrt und mit Worten und Gesten Marie und Frau Wendel geängstigt hatte. Stephan begriff, worin die Bedrohlichkeit dieses Menschen bestand. Die Frage, ob tatsächlich er es gewesen war, den Marie beschrieben hatte, war entbehrlich. Doch Stephan hätte sie auch nicht zu stellen gewagt.
»Das war Jahre, bevor wir auf großpolitischer Ebene laut darüber nachzudenken begonnen haben, ob die künstliche Gleichmacherei richtig ist«, dozierte Traunhof weiter. »Als wir uns miteinander verbanden, war Europa noch ein fast idyllisches Konglomerat von Staaten, die sich untereinander verbunden fühlten, ohne dass diese Bindungen untereinander jemals auf ihre Belastbarkeit hin überprüft worden wären. Heute, wo jedes Kind weiß, dass es auch im Großen, sprich im Verhältnis zwischen den Staaten, Leistungserbringer und Schmarotzer gibt, kann man nicht ernsthaft unsere Philosophie belächeln. Sie trifft im Kleinen wie im Großen zu. – Sie, Herr Knobel, sollten unser Angebot als Chance begreifen, einen beruflichen Sprung zu machen und damit zugleich Ihre eigene soziale Situation nachhaltig zu verbessern. Heute braucht man die Hilfe anderer. Alle Mitglieder der ›Zehn‹ verfügen ihrerseits über exzellente weitere Kontakte. Gereon hat durch Mandate, die sich über die Jahre und die sich daraus ergebenden Querverbindungen ergaben, ganz maßgeblich und bis heute profitiert. Und wie ich höre, ist er sogar bereit, Sie in seine Kanzlei
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