Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Kind bei Laune halten wollte. Etwa eine Stunde vor dem Ziel begegneten sie einer Gruppe von zehn Wanderern. Es waren Schweizer, die auf Trosts Nachfrage erklärten, dass sie den ursprünglich geplanten Verbleib auf der Hütte vorzeitig abgebrochen hätten. Es werde schlechtes Wetter erwartet, erklärte einer von ihnen. Deshalb habe man von der für den nächsten Tag geplanten Wanderung über das Gletschergebiet hinüber nach St. Moritz Abstand genommen. Sie redeten in unverwechselbarem Schweizer Deutsch, doch Stephan verstand sie mühelos und insbesondere, dass er nun doch mit Gereon Trost auf der Hütte allein sein würde.
»Ist sonst niemand mehr da?«, vergewisserte er sich besorgt.
»Doch, doch die Hütte ist bewartet«, antwortete ein anderer aus der Gruppe. »Es ist schön dort. Schmackhaftes Essen. Ihr werdet es gut haben! – Nur mit Wanderungen wird es morgen wahrscheinlich schwer werden …«
Die Schweizer verabschiedeten sich und stiegen weiter ins Tal hinab.
»Willst du abbrechen?«, fragte Trost, als die anderen außer Hörweite waren.
»Macht der Aufstieg denn Sinn, wenn das Wetter schlecht wird?«, fragte Stephan zurück.
»Wir wollen doch nicht wandern«, erwiderte Trost. »Ich denke, Marie würde nichts gegen das schlechte Wetter haben. Dann bleiben wir auf der Hütte, Stephan. Wir werden immer in das Tal zurückkommen können, selbst wenn es morgen oder übermorgen regnet. – Also, wie entscheidest du?«
Trost blickte in den noch blauen Himmel, in dem sich in der Ferne grauweiße Wolkengebilde auftürmten.
»Wir haben den größten Teil der Strecke hinter uns«, fuhr Trost fort. »Oben wirst du den Blick in die Welt der Berge genießen. Das verspreche ich.«
Stephan verstand immer weniger, weshalb der mühevolle Aufstieg zu dieser Hütte die unabdingbare Voraussetzung dafür sein sollte, dass sich Trost offenbarte. Der Fall Maxim Wendel, das Schicksal der Kanzlei, die Aufnahme der Tochter Delia in die Praxis, Trosts rätselhafte Rolle bei seiner damaligen Verteidigung des Mandanten, aber auch seine jetzige Rolle – all diese Themen brannten auf den Nägeln.
»Weiter, natürlich«, entschied Stephan.
Kurz vor 18 Uhr und mit beginnender Dämmerung sahen sie endlich die Hütte auf einem kahlen Hügel im hinteren oberen Teil des Tals liegen, eingebettet zwischen dem Piz Picuogl und dem Piz Jenatsch. Stephan hatte sich die Hütte vorher im Internet angesehen. Doch der Weg dorthin erforderte noch eine knappe Dreiviertelstunde strammen Gehens und Steigens, die nur deshalb ohne Missmut verging, weil sie das Ziel in greifbarer Nähe vor sich sahen. Dann endlich traten sie in die Hütte ein und wurden vom Wirt und dessen Partnerin begrüßt, freundlich hereingebeten und gleich darauf aufmerksam gemacht, dass man die Wanderschuhe im Vorraum stehen lassen müsse. Sie entledigten sich ihrer Rucksäcke, zogen die Schuhe aus und schlüpften in Hüttenpantoffel, wurden dann in den Aufenthaltsraum geführt, der mit weichem wohnlichen Arvenholz verkleidet war und durch die Fenster einen fantastischen Blick auf die Berge und ihre Gipfel gewährte, die sich majestätisch aneinanderreihten. Die Wolken hatten sich verdichtet und trieben bleiern grau vor dem sich ohnehin verdunkelnden Himmel.
Der Hüttenwirt gab jedem von ihnen ungefragt einen Begrüßungsschnaps, stieß mit ihnen an und blickte kritisch aus dem Fenster.
»Es haben sich noch zwei Wanderer angemeldet. – Ich hoffe, sie schaffen es rechtzeitig.«
Stephan blickte fragend zu Trost, doch der reagierte nicht, sondern öffnete seinen Rucksack und holte Wechselkleidung hervor.
»Wasser, Toilette, Schlafräume? – Ist alles noch so wie früher?«, fragte er den Hüttenwirt, während er den Rucksack wieder verschloss. »Es ist rund sechs Jahre her, dass ich einmal mit Freunden hier war.«
»Alles wie gehabt«, bestätigte der Hüttenwirt, Abendessen um 19 Uhr, Frühstück zwischen sieben und acht Uhr, Schlafen in Seiden- oder Baumwollschlafsäcken im Achter- bis 18-er-Zimmer. – Für Verliebte haben wir jetzt sogar zwei Doppelzimmer, das ›Armonia Dschimels‹ und die ›Muntanella Suita ‹ .«
»Murmeltier-Suite«, erklärte Trost den letzten Begriff lächelnd auf Stephans fragenden Blick.
»Ihr habt die freie Wahl«, sagte der Wirt. »Die Doppelzimmer kosten 20 Franken Aufpreis.«
»Wir gehen in eines der Achter-Zimmer«, entschied Trost. »Wir wollen den Verliebten nicht ihre Liebeshöhlen nehmen.«
»Im Untergeschoss haben wir nach
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