Ratgeber & Regenten 02 - Das Wehr
hatte bei ihnen weder Abscheu noch Überraschung ausgelöst.
»Seht euch die Male an.« Shanair wies mit einem Finger auf den Rand einer der klaffenden Wunden.
Die anderen hockten sich neben sie. Die Schnitte an sich waren schon tief genug, um zu töten, aber in jeder Wunde war ein weiterer Riß zu sehen, der quer zum eigentlichen Schnitt verlief.
»Was sich in sie hineingeschnitten hat, war nicht nur sehr scharf, sondern mit Widerhaken besetzt«, bemerkte Whizzra, Shanairs Stellvertreterin.
»Und groß«, fügte die dritte Crinti an. Xibryl, eine massige Kriegerin, die fast so groß und kräftig war wie Shanair, legte eine Hand auf den Bauch der toten Kundschafterin und spreizte die dicken Finger, soweit es ging. Ihre Hände waren lang und kräftig, und wie bei Shanair waren auch ihre Fingernägel blutrot lackiert. »Wenn das Spuren von Klauen sind, dann war die Hand viermal so groß wie meine. Welche Kreatur aus den Hügeln könnte so etwas tun?«
Shanair richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf. »Etwas neues. Etwas, das wir noch nicht gesehen haben.«
Ihr Blick wanderte über die Umgebung und suchte nach Hinweisen. Ihre scharfen Augen konnten keine Spuren ausmachen. Rekatras Angreifer mußte durch das Wasser entkommen sein.
Shanairs blaue Augen verengten sich, als sie den plätschernden Bach betrachtete. Die höchsten Gipfel der Gebirgsketten rund um Halruaa waren noch mit Schnee bedeckt, doch das Tauwetter des Frühlings war gekommen und verstrichen. Der Sommer stand bevor, aber die schweren Regenfälle der Monsunzeit waren noch zwei bis drei Monde entfernt. Das Wasser hätte nicht in dieser Menge fließen dürfen.
»Wir folgen dem Strom bis zur Quelle«, erklärte sie und ging zu ihrem Pferd. Dann galoppierte sie nach Norden, ohne einen Blick oder einen Gedanken an das tote Mädchen zu verschwenden.
Der Weg wurde mit jedem Schritt steiler und schwieriger, dann wich der felsige Weg einem Pinienwald, der schnell lichter wurde, je höher sie sich in die Berge begaben. Je weiter sie vordrangen, um so lauter und drängender wurde das Lied des Bachs.
Die Crinti ritten, bis die Sonne sank, und hielten auch nicht inne, als die Dämmerung immer längere Schatten warf. Die Geräusche der nahenden Nacht hallten durch den lichten Wald – der Ruf der Jäger, das Fauchen der Wildkatzen, das plötzliche Schreien der Beute. Als es zu dunkel wurde, um weiterzureiten, stiegen sie ab und gingen vor ihren Pferden. Dabei vertrauten sie ihrer guten Nachtsicht, die sie von ihren fernen Verwandten, den Dunkelelfen, geerbt hatten.
Der Anbruch des nächsten Tages war nicht mehr fern, als sie auf eine kleine Lichtung kamen. In ihrer Mitte entsprang der Bach aus einem kleinen, offenbar flachen Teich. Von der Kreatur, die Rekatra zerfetzt hatte, war nichts zu sehen.
Shanair ließ ihr Pferd am Rand der Lichtung zurück und ging vorsichtig näher. Sie ging um die Quelle des Bachs herum und beobachtete aufmerksam den moosbedeckten Boden. »Bringt mir einen dicken Ast.«
Xibryl zerrte sofort einen einen Meter achtzig langen, abgebrochenen Ast heran und schlug mit ihrer Handaxt die Zweige ab. Shanair hob den Ast und stach vorsichtig ins Wasser. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, die Quelle auszumachen. Der Boden unter dem Wasser war solider Fels.
»Unmöglich«, murmelte Shanair. Sie hob den Ast und stieß ihn mit aller Kraft ins Wasser.
Der Ast tauchte so tief und mühelos ein, daß Shanair fast den Halt verloren hätte. Sie sprang zurück und starrte fassungslos auf die noch verbliebenen sechzig Zentimeter Länge, die sie in der Hand hielt.
Eine riesige grüne Hand schoß aus der Quelle und griff an der Stelle ins Leere, an der sich Shanair um ein Haar befunden hätte. Sie hatte die Größe eines kleinen Kampfschilds. Zwischen den Fingern, von denen jeder so lang war wie Shanairs Unterarm, spannten sich Schwimmhäute, die Spitzen waren mit Klauen besetzt, die einem Angelhaken gleich einen Widerhaken besaßen. So plötzlich, wie die Hand aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder in der rätselhaften Quelle.
Shanair überwand ihre Überraschung und zückte ihre Schwerter. Kalter Stahl wurde aus Whizzras Gehenk gezogen. Das Knarren einer kreisenden Kette kündete vom tödlichen Tanz des mit Dornen besetzten Morgensterns Xibryls. Die drei Crinti stellen sich rasch und geräuschlos um die Quelle und bildeten ein Dreieck.
Mit einem Mal schien die Lichtung zu explodieren. Das Monster sprang
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