Ratgeber & Regenten 02 - Das Wehr
sich Magie so rasch aneignen konnte. Die Anstrengung hatte ihren Preis. Kiva alterte rasch und unübersehbar, als tausche sie ihre Lebenskraft gegen eine andere Art von Magie ein. Wie ein Kind, das entschlossen war, seine ganze Kindheit an einem einzigen Tag hinter sich zu bringen, kämpfte sie sich durch Bücher und Schriftrollen.
Tagelang ritten sie um die Berge herum, bewegten sich stetig nach Norden, bis sie schließlich ostwärts abbogen. Der Weg wurde immer rauher und gefährlicher. Jeden Tag bombardierte Andris Kiva mit Fragen nach ihrem Ziel und ihrer Absicht. Sie ignorierte ihn, bis seine Hartnäckigkeit schließlich ihre Wut entzündete. Sie wandte ihre zornigen goldenen Augen von der Seite des Buches, das sie gerade studierte, ab und sah ihn an, dann machte sie eine kurze Handbewegung – und eine Flamme schoß auf Andris zu.
Instinktiv duckte er sich, aber nicht weg von der Flamme, sondern auf sie zu. Er hechtete zwischen sie und den Hals seines Pferdes, um sein kostbares Reittier zu schützen.
Kivas feuriger Angriff traf ihn an der Schulter und verwandelte sich in Rauch. Andris spürte den Treffer, aber keine Hitze. Der Aufprall brachte Andris aus dem Gleichgewicht, er schlug auf dem harten Boden auf und rollte sich weg von seinem nervös gewordenen Pferd. Er erhob sich und sah Kiva an. »Was soll das?«
»Nur zur Übung«, erwiderte sie kühl lächelnd.
Andris nahm die Zügel des Pferds und stieg wieder auf. Als er nach seiner Tasche griff, um eine Salbe herauszuholen, wurde er auf eine plötzliche Bewegung aufmerksam. Er sah auf und griff statt dessen nach seinem Schwert.
Eine steile Felswand erhob sich gleich neben dem Pfad. Nicht mehr als ein Dutzend Schritte über ihnen befand sich eine flache Höhle, in der sich Schatten sammelten wie Regenwasser in einem Graben. Doch diese Schatten atmeten und nahmen Gestalt an. Der kampferprobte Jordain bekam bei dem Anblick einen trockenen Mund.
Drei Kriegerinnern, die mit Krummschwertern und Morgensternen bewaffnet waren, kamen auf sie zu. Sie waren alle groß, wohlproportioniert und ausgesprochen muskulös. Alle trugen Lederrüstung, hatten wilde graue Locken, und die großen mandelförmigen Augen bildeten einen markanten Punkt in den kantigen, rauchgrauen Gesichtern.
»Crinti!« rief Andris und hob das Schwert. Er wollte mit der Breitseite der Klinge Kivas Pferd gegen die Flanke schlagen, damit es losrannte und die Elfe in Sicherheit brachte.
Das Pferd reagierte nur mit einem beleidigten Schnauben. Kiva sah erst das schattenhafte Trio, dann Andris an. »Stimmt. Sei gegrüßt, Shanair«, rief sie.
Andris nahm erstaunt zur Kenntnis, wie die drei Kriegerinnen vor Kiva knieten. Die größte der drei ballte die rechte Faust und schlug sie einmal gegen ihre linke Schulter.
»Shanair meldet«, sagte sie mit auffallend rauher, zischender Stimme, »die Berge sind unser, und der Schatz ist groß.«
»Was ist mit dem Portal?« fragte Kiva erregt.
Als Reaktion nahm Shanair ein Lederband, das sie um den Hals trug, und hielt es zur Begutachtung hoch. Ein Dutzend knochenfarbener Objekte war daran befestigt, alle so lang, geschwungen und mit Widerhaken versehen wie Angelhaken. Nach einem Moment erkannte Andris, daß es sich um Krallen handelte.
»Wenn die Crinti Wache halten«, sagte Shanair stolz, »geschieht nichts unbemerkt.«
Kiva stieg ab, betrachtete die grausige Trophäe und nahm sie schließlich an. Andris sah, wie sich ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete und ihre bernsteinfarbenen Augen vor Kampflust aufleuchteten. Was das bedeutete, konnte er nicht einmal ahnen.
Kiva bedeutete den drei Crinti, sich zu erheben. »Nichts geschieht unbemerkt«, wiederholte sie lächelnd und fügte dann an: »Nichts, was wir Elfen nicht im Griff hätten.«
Die Crinti-Anführerin warf den Kopf in den Nacken und lachte ausgelassen. Sie nahm Kiva in die Arme und erdrückte die zierliche Elfe fast.
»Komm, Elfenschwester«, sagte sie, als sie sie wieder losgelassen hatte. »Meine Kriegerinnen und ich bringen dich zum Wehr.«
* * *
Den gesamten Morgen verbrachte Procopio Septus damit, Bittsteller entgegenzunehmen, Berichte zu lesen – von denen viele beunruhigende Nachrichten aus verschiedenen Winkeln des Landes enthielten – und an Besprechungen und Treffen teilzunehmen. Doch seine jüngste Unterhaltung mit Matteo wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.
Als die Mittagszeit die geschäftlichen Aktivitäten in der Stadt zum Erliegen brachte, kehrte
Weitere Kostenlose Bücher