Ratgeber & Regenten 02 - Das Wehr
Massaker. Die Festgäste lagen in verdrehter, unnatürlicher Haltung auf dem Boden, ihre festliche Kleidung war verkohlt und rauchte.
Andris hatte das Gefühl, sich durch einen Traum zu bewegen. Er hockte sich neben einen Priester. Ein Blick genügte, um zu wissen, daß ihm niemand mehr helfen konnte.
Leises Wimmern drang an sein Ohr. Er stand auf und sah zum Teich. Am Ufer lag eine junge Frau, deren blasse, nackte Gestalt die immer noch züngelnden Feuer reflektierte. Nasse Flügel hingen schlaff von ihren Schultern. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und aufgewühlt. Instinktiv nahm Andris den Umhang ab und eilte auf sie zu.
Kiva huschte an die Seite der jungen Frau und sprach erst beruhigend in der Elfensprache auf sie ein, ehe sie die Schamanin rief. Kiva flößte ihr einen Trank ein, während die Schamanin ein Heilgebet sprach. Dann half die der jungen Frau beim Aufstehen und führte sie langsam weg. Andris bekam Kiva zu fassen, ehe sie den beiden folgen konnte.
»Eine Undine«, erklärte die Elfe. »Zweifellos war der Teich ihre Heimat, und die Pilger sahen ihr Gesicht im Wasser. Die Azuthaner waren entweder Narren oder Scharlatane, wenn sie Mystra für diesen ›großen Gefallen‹ priesen!«
»Du wußtest es«, sagte Andris überzeugt. »Du wußtest, daß im Spiegel der Herrin eine Undine lebte. Warum sonst hättest du das Feuer gelegt? Doch nur, damit sie aus dem erhitzten Wasser an die Oberfläche kommen mußte!«
Kivas Blick wanderte über das Schlachtfeld. »So viele Tote – Magier, Bluthunde, Priester des Azuth. Für meinen Geschmack war das eine gute Nacht, auch ohne die Zauberbücher – die ich natürlich auch mitnehmen werde. Unsere Freunde sollten inzwischen die Bibliothek ausgeräumt haben.«
Die Zauberbücher, die am Spiegel der Herrin aufbewahrt wurden, waren unbezahlbar. Andris kannte ihren Wert und wußte, daß Kiva sie brauchte, um ihre Zauberkräfte zurückzuerlangen. »Warum die Undine?«
Die Elfe sah ihn spöttisch an. »Ich habe dich gewarnt, daß dies nicht die Queste eines Paladins werden würde. Du willst die Ordnung Halruaas stören, du willst den Schleier lüften, der über den alten Geheimnissen liegt. Du hast doch nicht geglaubt, das würde ohne Feuer und Blut gelingen, oder?«
»So naiv bin ich nicht«, gab Andris zurück. »Ich bin bereit zu kämpfen und notfalls auch zu sterben, um die Kabale zu zerschlagen. Aber im ehrlichen, ehrbaren Kampf, Kiva, nicht in einem sinnlosen Gemetzel.«
Einen Moment lang wirkte Kiva überrascht, dann lachte sie so laut, daß es über die ganze Lichtung schallte. »Mein lieber Andris, ich dachte, du hättest Kriegführung studiert! Hast du nicht gelernt, daß am Ende der Unterschied zwischen Sieg und Gemetzel davon abhängt, wer die Geschichte erzählt?«
ZEHNTES KAPITEL
N ach dem Überfall auf den Spiegel der Herrin zogen Andris und Kiva nordwärts weiter, wobei sie kaum erkennbaren Pfaden folgten, statt Handelsrouten zu nehmen. Sie reisten allein, da keiner der Elfen von Mhair noch etwas mit Kiva zu tun haben wollte.
Ein Elf hatte schwere Verbrennungen erlitten und würde für immer vernarbt bleiben. Andere hatten durch Schwerter oder Zauber Wunden davongetragen, aber es war niemand gestorben, und sie kehrten mit reicher Beute nach Mhair zurück. Kiva hatte ihnen versichert, dieser magische Schatz werde ihre magischen Kräfte wiederherstellen und sie darauf vorbereiten, Akhlaur zu schlagen.
Dennoch hatte sich der Anführer der Elfen in der Nacht auf eine Weise verabschiedet, die keinen Raum für Zweifel ließ. Kiva schien diese Ablehnung nicht zu stören, doch sie sorgte dafür, daß die Elfen ihr versprachen, sich um die verletzte Undine zu kümmern. Andris hatte das Gefühl, die Elfen seien beleidigt, daß sie diese Bitte überhaupt für nötig gehalten hatte.
Sie marschierten, bis sie auf ein abgelegenes Bauerndorf stießen. Ein paar Münzen aus dem Schatz des Tempels genügten, um Pferde und Reiseausrüstung zu erwerben. Als sie weiterritten, beschäftigte sich Kiva unablässig mit den Zauberbüchern und übte lautlos einen Zauber nach dem anderen. Wenn sie bei Einbruch der Nacht anhielten, um den Pferden eine Rast zu gönnen, versuchte sie sich an kleinen Zaubern: am Heraufbeschwören von Lichtern, am Entzünden kleiner Feuer – Dingen, die jedes halruaanische Kind beherrschte.
Noch nie hatte Andris jemanden gesehen, der so zielgerichtet und konzentriert war. Er kannte Magier und ihre Art, aber er hatte nicht geglaubt, daß man
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