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Rattenkoenig

Rattenkoenig

Titel: Rattenkoenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clavell
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abblies.
    Am nächsten Tag trat Peter Marlowe zu den Männern, die vor dem Lazarett warteten. Das Mittagessen war vorbei, und die Sonne quälte die Luft und die Erde und die Geschöpfe der Erde. Selbst die Fliegen wurden schläfrig. Er entdeckte ein kleines Fleckchen Schatten, hockte sich schwerfällig in den Staub und begann zu warten. Das Pochen in seinem Arm war schlimmer geworden.
    Die Dunkelheit war schon angebrochen, als er an die Reihe kam.
    Dr. Kennedy nickte Peter Marlowe knapp zu und bedeutete ihm, sich zu setzen. »Wie geht es Ihnen heute?« fragte er abwesend.
    »Danke, es geht so.«
    Dr. Kennedy beugte sich vor und berührte den Verband. Peter Marlowe schrie auf.
    »Verdammt, was soll das?« knurrte Dr. Kennedy wütend. »Menschenskind, ich habe Sie doch kaum angefaßt!«
    »Ich weiß nicht. Bei der geringsten Berührung schmerzt es höllisch.«
    Dr. Kennedy steckte Peter Marlowe ein Thermometer in den Mund und fühlte den Puls. Anomal, Puls neunzig. Schlecht. Temperatur normal, und das war ebenfalls schlecht. Er hob den Arm und schnupperte am Verband. Er strömte einen deutlich wahrnehmbaren Mäusegeruch aus. Schlimm.
    »Gut«, sagte er. »Ich werde den Verband abnehmen. Hier.« Er drückte Peter Marlowe ein kleines Stück Reifengummi in die Hand, das er mit einer Pinzette aus der Sterilisierflüssigkeit herausgeholt hatte. »Beißen Sie fest darauf. Es geht nicht anders, ich muß Ihnen weh tun.«
    Er wartete, bis Peter Marlowe das Gummistück zwischen die Zähne geschoben hatte, dann begann er so sanft wie nur möglich den Verband abzuwickeln. Aber er war mit der Wunde verklebt und zu einem Teil von ihr geworden, so daß nichts anderes übrigblieb, als den Verband loszureißen, und Dr. Kennedy war nicht so geschickt, wie er es hätte sein sollen und wie er es einmal gewesen war.
    Peter Marlowe hatte schon viele Schmerzen durchgemacht. Und wenn man etwas kennt, wenn man es ganz genau kennt, dann kennt man auch seine Grenzen und sein Ausmaß.
    Mit etwas Übung – und mit Mut – kann man sich in den Schmerz hineingleiten lassen, und dann ist der Schmerz nicht schlimm, nur ein vom Willen beherrschbares An- und Abschwellen. Manchmal ist er sogar gut.
    Aber dieser Schmerz ging über alle Qualen hinaus. »O Gott«, wimmerte Peter Marlowe mit dem Beißstück aus Gummi im Mund, und die Tränen strömten, und sein Atem kam stoßweise.
    »Jetzt ist es vorbei«, tröstete Dr. Kennedy, der wohl wußte, daß es nicht so war. Aber er konnte einfach nichts anderes mehr tun, nichts. Hier nicht. Der Patient hätte natürlich eine Morphiumspritze bekommen sollen, das weiß schließlich jedes Kind, aber eine Spritze konnte man sich jetzt nicht leisten. »Lassen Sie uns jetzt mal sehen.«
    Sorgfältig untersuchte er die offene Wunde. Sie war aufgedunsen und geschwollen und zeigte gelblich getönte Schattierungen mit violetten Flecken. Mit einer Schleimschicht bedeckt.
    »Hmm«, machte er nachdenklich, lehnte sich zurück, spielte mit den Fingern, legte sie wie zu einem Kirchturm gegeneinander und sah von der Wunde weg zu dem Kirchturm hin. »Tja«, begann er schließlich, »drei Möglichkeiten stehen zur Wahl.«
    Er stand auf und begann mit eingefallenen Schultern auf und ab zu gehen, und dann sagte er monoton, so, als halte er eine Vorlesung: »Die Wunde hat jetzt andere Merkmale angenommen. Clostridial-Myositis. Oder mit einfacheren Worten gesagt, die Wunde ist brandig. Gasbrand. Ich kann die Wunde freilegen und das infizierte Gewebe herausschneiden, aber ich glaube nicht, daß das etwas nützt, denn der Infektionsherd sitzt zu tief. Deshalb müßte ich einen Teil der Unterarmmuskeln herausnehmen, und damit würde Ihnen die Hand sowieso nichts mehr nützen. Die beste Lösung ist Amputieren …«
    »Was?«
    »Ganz bestimmt.« Dr. Kennedy redete nicht zu einem Patienten, er gab nur eine Vorlesung im sterilen Klassenzimmer seines Hirns. »Ich schlage eine Amputation am Ellbogen vor. Sofort. Dann können wir das Ellbogengelenk vielleicht noch retten …«
    Aus Peter Marlowe brach es verzweifelt hervor: »Es ist doch nur eine Fleischwunde. Das ist doch nichts Schlimmes. Es ist doch nur eine Fleischwunde!«
    Die Furcht in seiner Stimme brachte Dr. Kennedy in die Wirklichkeit zurück, und er sah einen Augenblick in das kalkweiße Gesicht. »Es ist eine Fleischwunde, aber sie ist sehr tief. Und Sie haben Toxämie. Sehen Sie, mein Junge, das wäre ganz einfach, wenn ich ein Serum hätte, das ich Ihnen geben könnte, aber

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