Rattenkoenig
nämlich nicht allzuviel. Dann begann er, ständig Frauenkleider zu tragen. Und eines Nachts versuchte jemand, ihn zu vergewaltigen.
Danach hätte Sean fast den Verstand verloren. Er versuchte, die Frau in sich zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Dann versuchte er, Selbstmord zu begehen. Natürlich wurde es vertuscht. Aber das half ihm nichts. Es machte alles nur noch schlimmer, und Sean verfluchte uns, daß wir ihm das Leben gerettet hatten.
Einige Monate später gab es einen neuen Vergewaltigungsversuch. Daraufhin begrub Sean sein männliches Ich völlig. ›Ich kämpfe nicht mehr dagegen an‹, erklärte er. ›Ihr habt gewollt, daß ich eine Frau werde, jetzt glauben alle, daß ich eine bin. Also gut. Ich werde eine sein. In mir fühle ich, daß ich eine bin. Deshalb ist es nicht mehr nötig, nur so zu tun. Ich bin eine Frau, und man wird mich als solche behandeln.‹
Frank und ich versuchten, ihn zur Vernunft zu bringen und ihm den Kopf zurechtzusetzen, aber wir kamen gar nicht an ihn heran. Deshalb sagten wir uns, es wäre nur vorübergehend, und eines Tages würde Sean wieder ganz normal sein. Sean wirkte tatsächlich großartig auf die Moral der Gefangenen, und wir wußten, daß wir nie jemanden bekommen könnten, der auch nur ein Zehntel so gut wie Sean die Frauenrollen spielen würde. Deshalb zuckten wir die Achseln und setzten das Spiel fort.
Armer Sean. Er ist ein wunderbarer Mensch. Wäre er nicht gewesen, hätten Frank und ich längst den Geist aufgegeben.«
Tosender Beifall klang auf, als Sean von der anderen Seite her wieder auf die Bühne trat. »Sie haben keine Ahnung, was Applaus mit einem anrichten kann«, sagte Rodrick halb zu sich selbst, »Applaus und Verehrung. Das kann man nicht begreifen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Da draußen auf der Bühne. Man kann es nicht begreifen. Es ist phantastisch aufregend, eine erschreckende, furchterregende, wunderschöne Droge. Und sie wird Sean immer wieder eingegeben. Immer wieder. Das und die Begierde – Ihre, meine, unser aller männliche Begierde.«
Rodrick wischte sich den Schweiß von Gesicht und Händen. »Wir tragen die Verantwortung dafür, Gott vergebe uns.«
Sein Stichwort kam, und er ging auf die Bühne hinaus.
»Sollen wir auf unsere Plätze zurückkehren?« fragte Peter Marlowe den King.
»Nein. Wir sehen lieber von hier aus zu. Ich bin noch nie hinter einer Bühne gewesen. Das ist etwas, das ich immer schon mal wollte.« Ob Cheng San sich wohl jetzt die Eingeweide aus dem Wanst kotzt, überlegte der King.
Aber der King wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich Sorgen zu machen. Sie waren in die Sache verstrickt, und er war bereit – wie es auch kommen mochte. Er sah wieder auf die Bühne hinaus. Seine Augen beobachteten Rodrick und Frank und Sean. Unerbittlich verfolgten seine Augen Sean. Jede Bewegung, jede Geste.
Alle beobachteten Sean. Berauscht.
Und Sean und Frank und die Augen wurden eins, und die auf der Bühne glühende Leidenschaft stieg empor und stieg in Spieler und Zuschauer zugleich und entblößte sie gewaltsam.
Als nach dem letzten Akt der Vorhang fiel, herrschte völlige Stille. Die Zuschauer saßen da wie von einem Zauber bestrickt.
»Mein Gott«, sagte Rodrick ehrfürchtig. »Das ist das größte Kompliment, das man uns hätte machen können. Und ihr habt es verdient, ihr beiden. Ihr wart inspiriert. Wahrhaftig inspiriert.«
Der Vorhang begann sich zu heben, und als er ganz oben war, zerriß das ehrfürchtige Schweigen, und Hochrufe erklangen, und die Spieler wurden zehnmal vor den Vorhang gerufen, und neue Hochrufe erklangen, und dann stand Sean allein auf der Bühne und trank die lebenspendende Bewunderung in sich hinein.
Als die Ovationen noch immer nicht enden wollten, traten Rodrick und Frank ein letztes Mal auf die Bühne hinaus, um den Triumph zu teilen, zwei Schöpfer und ein Geschöpf, das wunderschöne Mädchen, das zugleich ihr Stolz und ihre Nemesis war.
Die Zuhörer verließen ruhig den Zuschauerraum. Jeder dachte an Zuhause, dachte an sie, jeder war gefangen in seinem eigenen dumpfen Schmerz. Was tat sie jetzt, jetzt im Augenblick?
Larkin war am meisten getroffen. Mein Gott, warum hatte man das Mädchen ausgerechnet Betty nennen müssen? Warum? Und meine Betty – ist sie – würde sie – ist sie jetzt, liegt sie jetzt in den Armen eines anderen?
Und Mac. Ihn überfiel die Furcht um Mem. Ist das Schiff versenkt worden? Lebt sie noch? Ist mein Sohn am Leben? Und Mem –
Weitere Kostenlose Bücher