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Rattenkoenig

Rattenkoenig

Titel: Rattenkoenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clavell
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seit langem ihren Dienst quittiert. »Doktor«, sagte Johnny. »Ziehen Sie mir doch bitte meine Stiefel an. Ich muß aufstehen.«
    Der alte Mann blickte sich überall suchend um. Man sah schlecht, denn das Nachtlicht im Krankensaal war abgeblendet und sorgfältig abgeschirmt.
    »Es sind keine hier«, antwortete er und spähte kurzsichtig zu Johnny hinüber, als er sich auf den Bettrand setzte.
    »Ach … Kann man nichts machen.«
    »Was waren es denn für Stiefel?«
    Tränen quollen aus Johnnys Augen. »Ich habe die Stiefel immer tadellos in Schuß gehalten. Die Stiefel haben mich ein Leben lang getragen. Waren das einzige, was mir noch geblieben war.«
    »Möchten Sie noch eine Zigarette rauchen?«
    »Danke, ich habe gerade zu Ende geraucht.« Johnny legte sich in seinen eigenen Schmutz zurück. »Schade um meine Stiefel«, klagte er.
    Dr. Kennedy seufzte, zog seine schnürsenkellosen Stiefel aus und zog sie Johnny an. »Ich habe noch ein Paar«, log er, stand dann barfuß auf und fühlte einen stechenden Schmerz im Rücken.
    Johnny bewegte die Zehen und genoß das Gefühl des rauhen Leders an den Füßen. Er versuchte sie anzusehen, aber die Anstrengung war zu groß.
    »Ich sterbe«, sagte er.
    »Ja«, sagte der Arzt. Es gab eine Zeit – gab es überhaupt je eine solche Zeit? –, in der er sich zu seinen besten Manieren am Krankenbett gezwungen hätte. Jetzt gab es keinen Anlaß dazu.
    »Ziemlich witzlos, nicht wahr, Doktor? Zweiundzwanzig Jahre und nichts. Vom Nichts ins Nichts.«
    Ein Lufthauch brachte das Versprechen auf das Morgengrauen mit sich in den Krankensaal.
    »Danke, daß Sie mir Ihre Stiefel geliehen haben«, sagte Johnny. »Etwas, das ich mir immer versprochen habe. Ein Mann muß Stiefel haben.«
    Er starb.
    Dr. Kennedy nahm Johnny die Stiefel weg und zog sie wieder an die eigenen Füße. »Wärter«, rief er laut, als er einen auf der Veranda entdeckte.
    »Jawohl, Sir?« antwortete Steven hell und ging mit einem Eimer Durchfall in der linken Hand zu ihm hinüber.
    »Lassen Sie diesen Mann hier vom Leichenkommando abholen. Ach ja, und Unteroffizier Masters' Bett können Sie auch neu belegen.«
    »Ich kann aber wirklich nicht alles schaffen, Herr Oberst«, erwiderte Steven und stellte den Eimer ab. »Ich muß drei Bettpfannen für die Betten 10, 23 und 47 holen, und der arme Oberst Hutton fühlt sich so schlecht, daß ich einfach seine Verbände wechseln muß.« Steven sah auf das Bett hinab und schüttelte den Kopf. »Nichts als Tote …«
    »Das ist nun mal unsere Aufgabe, Steven. Das mindeste, was wir für sie tun können, ist, sie zu beerdigen. Und je schneller, desto besser.«
    »Natürlich, Sir. Arme Jungens.« Steven seufzte und tupfte sich geziert mit einem sauberen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann schob er das Taschentuch in die Brusttasche seines weißen Arztkittels zurück, hob den Eimer auf, taumelte ein wenig unter dessen Gewicht und ging zur Tür hinaus.
    Dr. Kennedy verachtete ihn, verachtete sein öliges schwarzes Haar, seine ausrasierten Achselhöhlen und glattrasierten Beine. Gleichzeitig konnte er ihm aber keine Vorwürfe machen. Homosexualität war ebenfalls eine Möglichkeit, zu überleben. Die Männer schlugen sich um Steven, teilten ihre Rationen mit ihm, gaben ihm ihre Zigaretten, alles für die vorübergehende Benutzung seines Körpers. Und was, fragte der Arzt sich, was ist eigentlich so Ekliges daran? Wenn man an den normalen Geschlechtsverkehr denkt, nun, klinisch gesehen ist er ebenso ekelerregend.
    Mit seiner lederartigen Hand kratzte er sich gedankenabwesend den Hodensack, denn das Jucken war heute nacht schlimm. Unwillkürlich faßte er sich an die Geschlechtsteile. Sie waren gefühllos. Knorpel.
    Er erinnerte sich, daß er schon seit Monaten keine Erektion mehr gehabt hatte. Nun, dachte er, das liegt nur an der schlechten Ernährung. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Sobald wir hier herauskommen und normales Essen erhalten, wird es wieder klappen. Ein Mann mit dreiundvierzig ist schließlich immer noch ein Mann.
    Steven kam mit dem Leichenkommando zurück. Die Leiche wurde auf eine Tragbahre gelegt und hinausgetragen. Steven wechselte die einzige Decke. Einen Augenblick später wurde eine zweite Tragbahre hereingetragen und der neue Patient vorsichtig aufs Bett gelegt.
    Automatisch fühlte Dr. Kennedy den Puls des Mannes.
    »Das Fieber wird morgen zurückgehen«, sagte er. »Nur Malaria.«
    »Jawohl, Herr Doktor.« Steven blickte affektiert auf.

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