Rau ist die See ...
geschleudert hatte.
Im nächsten Moment sah sie ihn. Nach seiner Kleidung zu urteilen, war er auch Matrose. Da hatte sie sich jedoch schon mal geirrt. Eigentlich sieht er auch verflixt gut aus, schoss es Jade durch den Sinn. Normalerweise stand sie nicht besonders auf dunkelhaarige Männer. Aber dieser hatte eine Ausstrahlung, die sie faszinierte. Vielleicht lag es an seinen sehr ausdruckvollen dunkelbraunen Augen, in denen sie momentan nur Erschrecken und Bedauern las.
„Hey, das … das wollte ich nicht. Ist dir etwas passiert?“ Seine Stimme war tief und weich wie Samt.
Er kam auf Jade zu, bis er unmittelbar vor ihr stand. Sanft berührte er sie an den Oberarmen und sah ihr direkt in die Augen. Seine Pupillen hatten etwas Unergründliches. Jade spürte, dass sie weiche Knie bekam. Dieser Typ war wirklich ungewöhnlich. Trotzdem konnte sie ihn nicht einfach so anhimmeln! „Wirfst du einfach aus Spaß mit Werkzeug um dich?“, fragte sie provokant. „Oder ist das ein spezieller Sport von dir?“
Während sie redete, blickte sie neugierig an ihrem Gegenüber vorbei. Hinter dem Typen war eine offen stehende Luke. Es roch stark nach Maschinenöl. Im Halbdunkel sah sie Kolben, Rohre sowie Teile einer Schraubenwelle.
Der Matrose hatte ihren interessierten Blick offenbar bemerkt. „Das ist einer der Hilfsmaschinenräume. Ich bin mit der Wartung beauftragt. Die Hilfsmaschinen kommen nur zum Einsatz, wenn die Hauptmaschine ausfällt. Aber leider läuft die Arbeit nicht so, wie sie sollte. Und da bin ich mal kurz ausgerastet und habe den Schraubenschlüssel durch die Gegend gepfeffert.“ Bedauernd seufzte er. „Jedenfalls bin ich froh, dass du nicht verletzt wurdest. Ich bin übrigens Rick. Rick Andrews.“
„Und ich bin Jade Walker, die neue Animateurin.“ Sie reichte ihm die Hand. „Hilfsmaschinenraum, sagst du? Verflixt, da muss ich mich ja mächtig verlaufen haben. Ich wollte eigentlich zu den Vorratsbunkern.“
Sie zeigte Rick den Zettel, auf dem sie sich die genaue Bezeichnung des Raums notiert hatte. Und als sie Ricks Lächeln auffing, konnte sie ihm schon nicht mehr böse sein. Wie hätte er schließlich ahnen sollen, dass sie genau in dem Moment um die Ecke biegen würde? Er hatte sie ja gar nicht sehen können.
„Das ist wirklich ziemlich weit entfernt von hier.“ Er hob den Blick. „Weißt du was, Jade? Ich bringe dich dorthin. Sozusagen als kleine Entschädigung für den Schreck, den ich dir eingejagt habe.“
Dieses Angebot nahm Jade gern an. Nicht nur, weil Rick ihr gut gefiel. Sie war es einfach leid, ihre Zeit mit sinnlosem Suchen zu vergeuden.
Nachdem Rick seinen Werkzeuggürtel abgelegt hatte, gingen sie los.
„Wie gefällt es dir auf der MS Kyrene, Jade?“
„Das Schiff kommt mir vor wie eine schwimmende Stadt. Es gibt an Bord scheinbar alles, was man sich für einen angenehmen Urlaub wünschen kann.“
„Ja, das stimmt. Und die Arbeit ist auch okay, jedenfalls für mich. Von der Technik her macht es keinen Unterschied, ob man auf einem Containerschiff oder einem Luxusliner die Maschinen bedient. Aber die Bezahlung ist besser, und man hat auch öfter mal Landgang.“
„Kann man sich auf einem Containerschiff eigentlich auch so gut verstecken?“
Rick schien ihre Frage lustig zu finden, jedenfalls lachte er trocken auf. „Verstecken? Wieso, willst du dich vor der Arbeit drücken?“
„Unsinn.“ Jade winkte ab. „Das kann man als Animateurin sowieso nicht, denn ich muss ja den ganzen Tag lang Programm für die Passagiere machen. – Nein, ich dachte an blinde Passagiere. Hier auf der MS Kyrene gibt es für solche Leute doch unzählige Versteckmöglichkeiten. Ich habe mich gefragt, ob das auf Containerfrachtern genauso ist.“
„Nein, das sind Riesenkähne mit nur wenigen Männern Besatzung. Also gibt es auch nur wenige Kabinen und Vorratsbunker. Zwischen den Containern kannst du dich zwar verstecken, aber du würdest schnell verhungern und verdursten. Diese Schiffe sind wochenlang auf See, zum Beispiel auf der Route Shanghai – Rotterdam. Aber wie kommst du ausgerechnet auf blinde Passagiere?“
Jade zuckte die Schultern. „Ach, nur so. Ich habe ja keine Ahnung von der Seefahrt, sondern bin eine richtige Landratte. Da frage ich euch Matrosen natürlich ein Loch in den Bauch. Ach, immerhin: Vom Kielholen habe ich schon gehört.“
Sie lachten beide. Während sie weitergingen, musterte Jade ihn neugierig. Die Frage nach den blinden Passagieren schien Rick verblüfft
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