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Raue See

Raue See

Titel: Raue See
Autoren: Ralph Westerhoff
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antwortete Hans-Werner Sinn. »Sie ist seit Montag spurlos verschwunden. Wir machen uns Sorgen. Sie müssen sie suchen.«
    Sinn war genervt. Es schien die Polizei nicht im Geringsten zu interessieren, dass Annegret am Dienstag einfach nicht zur Arbeit erschienen war. Ohnehin schätzte er die Atmosphäre im Polizeipräsidium in der Ettstraße nicht sonderlich. Immer mal wieder kam es vor, besonders nach Insolvenzen, dass der zweiundsechzigjährige Wirtschaftsprüfer hier als Zeuge vernommen wurde. Stets schwebte dabei das Damoklesschwert über ihm, das aus dem »sachverständigen Zeugen Dr.   Sinn« mit ein bisschen Pech eines Tages den »Beschuldigten Dr.   Sinn« werden ließ, der bei den diversen Konkursstraftaten seines Mandanten nicht nur nicht richtig hingesehen, sondern angeblich tatkräftig unterstützt haben sollte. »Beihilfe« hieß das im unschönen Juristendeutsch. Mit einem Satz: Sinn schätzte die Kripo in etwa so sehr wie der gemeine Autofahrer die uniformierte Polizei.
    Aber nachdem seine Kollegin jetzt schon den dritten Tag fehlte, ohne sich krankgemeldet oder Urlaub mit ihm abgesprochen zu haben, machte er sich Sorgen. Er hatte mehrmals versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, doch da meldete sich nur die Mailbox. Auch beim Festnetzanschluss hatte er immer wieder nur den Anrufbeantworter erreicht.
    Verwandte hatte sie, wie er wusste, nicht. Sie war ein Einzelkind, und ihre Eltern hatten sich, nachdem Annegrets Vater in Frühpension gegangen war, entschieden, nach Neuseeland auszuwandern. Zu den »hohen Feiertagen«, wie Annegret Ostern und Weihnachten nannte, flog sie sie besuchen. Darüber hinaus war Annegret Single. Was sie in ihrer Freizeit machte, wusste er nicht, ebenso wenig, mit wem. So eng war das persönliche Verhältnis zwischen ihnen nicht, auch wenn sie schon seit vierzehn Jahren zusammenarbeiteten.
    »Ich sag Ihnen mal was.« Max-Xaver Mayr war die Ruhe selbst. »Jeden Tag werden in Deutschland fast zweihundert Personen vermisst gemeldet. Die meisten tauchen nach ein paar Tagen wieder auf. Hatten Liebeskummer, Stress oder was weiß ich. Außerdem: Bei der Dame handelt es sich doch um eine Volljährige, oder?«
    »Frau Dr.   Annegret Schleibohm ist neununddreißig Jahre alt und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte«, antwortete Sinn gereizt.
    »Sehen S’, und deswegen darf sie auch frei entscheiden, wo sie leben will. Polizeilich gilt eine Person erst dann als vermisst, wenn sie erstens ihren gewohnten Lebensbereich verlassen hat, zweitens ihr derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt ist …«
    »Das ist ja wohl gegeben«, regte sich Hans-Werner Sinn auf. Er hatte kein Verständnis für die Gelassenheit, die der Beamte an den Tag legte.
    »Lassen S’ mich doch erst mal ausreden. Drittens muss eine Gefahr für Leib und Leben bestehen. Dafür gibt es momentan aber keinerlei Anhaltspunkte.«
    »Was werden Sie also tun?«
    »Ich nehme die Daten der Dame auf und pflege sie in unser Computersystem ein. Darauf haben alle Polizeidienststellen Zugriff. Taucht sie irgendwo auf, kann man sie fragen, ob sie freiwillig dort ist. Ist dies der Fall, ist die Sache erledigt. Wenn nicht, wird dem nachgegangen. Ohne einen Hinweis auf eine Gefahr für Leib und Leben können wir bei zweihundert Fällen am Tag aber unmöglich jedes Mal Hubschrauber, Hundertschaften und die Hundestaffel losschicken.«
    »Und wie lange suchen sie mit Hilfe dieses Systems?«, wollte Sinn wissen.
    »Siebenundneunzig Prozent aller Vermisstenfälle sind bereits nach einem Jahr aufgeklärt. Bei den anderen wird nach dreißig Jahren die Suche eingestellt und der Eintrag bei INPOL gelöscht«, erklärte Mayr. Dann übergab er Hans-Werner Sinn eine Broschüre des Bundeskriminalamtes mit dem Titel: Die polizeiliche Bearbeitung von Vermisstenfällen in Deutschland. »Da steht alles drin, was Sie wissen müssen.«
    »Aha«, sagte Sinn tonlos. »Dann mal vielen Dank.«
    »Gern geschehen, und einen schönen Tag noch«, wünschte Mayr. Während Sinn sorgenvoll kopfschüttelnd das Büro verließ, lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Erst kürzlich war ein Anwalt wiederaufgetaucht, der fast ein Jahr verschwunden gewesen war. Einfach so. Kein Brief, kein Hinweis, nichts. Sie hatten ermitteln können, dass er mit dem Flugzeug in den Fernen Osten geflogen war. Dort verlor sich seine Spur. Er benutzte ein Jahr lang keine Kreditkarte, kein Handy, keinen Reisepass. Alle waren sich sicher, dass
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