Raum in der Herberge
sanfte Nebel des Alkohols sich verzogen hatte und ich mir diese
Geschichten noch einmal durch den Kopf gehen ließ, beschlich mich die Ahnung,
dass die Strukturen in diesem idyllischen Dorf vermutlich komplizierter waren,
als es auf den ersten Blick schien. Pilger auf dem Durchmarsch merken davon
natürlich nichts und auch als Hospitalera auf Zeit würde ich eine Weile
brauchen, bis ich einen gewissen Einblick in die Verwerfungen und Fallstricke
des sozialen Geflechts bekäme.
Am
nächsten Tag begann die Routine, die im Großen und Ganzen während meiner
gesamten Zeit in Azofra gleich blieb. Roland stand früh auf, richtete in der
Küche im Erdgeschoss das Frühstück für die Pilger und unterhielt sie, während
sie es einnahmen, mit allerlei Sprüchen und Geschichten. Er hatte mich zwar an
einem meiner ersten Morgen eingewiesen, wie das Frühstück zu machen sei, damit
ich ihn gegebenenfalls vertreten könnte. Aber ich merkte schnell, dass er das
im Grunde gar nicht wollte. Das Frühstück war seine Show, auf die er nur
höchst ungern verzichtet hätte.
Seine
Bewegungen, wie er das Brot auf dem altmodischen Grill toastete und mit Schwung
ins Körbchen auf dem Tisch beförderte, wie er im hohen Bogen Kaffee nachgoss,
zu seinen Geschichten gestikulierte und die graubraune Künstlermähne zurückwarf
— das war geradezu eine Theatervorstellung. Ich hätte das nie so unterhaltsam
hingekriegt, genauso wenig wie seine immer gleiche und stets beliebte Mahnung:
„Deine Mutter hat angerufen und gesagt, ich soll dich hier nicht weglassen,
bevor du mindestens 1500 Kalorien gefrühstückt hast.“
Wenn
der letzte Pilger mit guten Ratschlägen und Bonmots auf den Weg geleitet worden
war, schlossen wir die Herberge zu, tranken unsererseits noch einen Kaffee — und
dann begann meine Show. Die allerdings vollzog sich ohne Publikum und den
Applaus dafür bekam ich — wenn überhaupt — erst beim Einzug der neuen Pilger am
Nachmittag, denn meine Show war das Herrichten der Albergue für die nächsten
Gäste. Ich machte die Betten der Pilger, bezog sie, wenn nötig, frisch, leerte
Abfalleimer, kehrte und wischte die Böden, putzte das Bad.
Es
hatte schon etwas Kurioses an sich: Ich, die ich seit Jahren daheim eine
Zugehfrau beschäftigte, fand es hier höchst befriedigend, genau die Arbeiten zu
verrichten, die ich ansonsten von anderen für mich machen ließ, und war stolz,
wenn Pilger sagten: „Das ist ja hier sauberer als in manchem Hotel.“
Meist
war ich gegen zehn mit dem Reinemachen fertig. Roland, der sich währenddessen
noch mal aufs Ohr gelegt hatte, stand wieder auf, und wir fuhren für gewöhnlich
nach Nájera zum Einkaufen. Zwar hätten wir alles Notwendige auch in den
Dorfläden bekommen, aber die Supermärkte der Stadt waren billiger.
Nach
den Einkäufen nahmen wir entweder irgendwo einen Drink zu uns, bevor wir
zurückfuhren, oder ich ging, während Roland schon heimfuhr, noch ein wenig
Schaufensterbummeln und legte den Rückweg von Nájera zu Fuß zurück. Ich genoss
diese sechs Kilometer auf dem Camino durch die Weinberge mit dem wunderbaren
Blick über das weite Land, ein Vergnügen, noch dadurch erhöht, dass ich keinen
Pilger-Rucksack zu schleppen brauchte.
Wenn
ich „Zuhause“ ankam, hatte Roland für uns gekocht — schmackhaft und
einfallsreich und immer mehrere Gänge, trotz meiner Proteste, ich wollte nicht
gemästet werden. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass wir uns am Herd
abwechseln würden, denn ich kochte auch sehr gern, doch ich schaffte es nur ein
einziges Mal, ein Mittagessen zuzubereiten. Das schmeckte zwar lecker, wie
Roland beinahe widerwillig zugeben musste, trotzdem wollte er sich die
Lufthoheit über Töpfen und Pfannen nicht nehmen lassen — seine Show.
Nachdem
er anschließend die Küche wieder sauber gemacht hatte, hielt Roland Siesta und
um drei Uhr begann wiederum meine Show. Ich bezog Posten am Schreibtisch
im Hausflur, wartete auf Pilger und wies sie, wenn sie denn kamen, in die
Gepflogenheiten der Herberge ein.
Am
Spätnachmittag leistete Roland mir entweder Gesellschaft oder verzog sich zu
den Pilgern ins Wohnzimmer, wo er in sämtlichen nötigen Sprachen über das Leben
im Allgemeinen und den Camino im Besonderen parlierte. Er wusste viel aus
Geschichte und Gegenwart des Weges, konnte ungeheuer witzig sein und die Pilger
liebten es, ihm zuzuhören.
„Den
Camino kann man in drei Abschnitte unterteilen“, erklärte Roland gern. „Der
erste geht von den
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