Raum in der Herberge
Freundin unmittelbar bevor, müsse
sie lediglich noch ihren Haushalt in der Schweiz auflösen. Inzwischen sahen die
Dinge anders aus. Roland war immer noch allein in Azofra, und es stand in den
Sternen, ob seine Herzensdame jemals bei ihm einziehen würde. Denn Madame
Suisse war anscheinend eine viel zu kluge Frau, als dass sie sich vom Sturm der ersten Verliebtheit zu vorschnellen Schritten
hinreißen ließ. Deshalb war sie zwar ein paar Mal nach Azofra gekommen, um
Roland zu unterstützen, doch sie löste mitnichten ihren schweizer Haushalt auf, sondern wollte wohl erst einmal abwarten, ob er tatsächlich das
Herbergsprojekt durchziehen oder wieder bei Schwierigkeiten die Flucht
ergreifen würde.
Schwierigkeiten
hatte Roland, soweit ich das beobachten konnte, durchaus einige in diesem
kleinen Dorf, obwohl er auf den ersten Blick dort recht gut hinzupassen schien.
Mittelgroß, leicht wettergebräunt und stets in Hospitalero-Arbeitskluft —
halblangen Hosen und Hemden aus fester Baumwolle — hätte man ihn durchaus für
einen Einheimischen halten können und genauso gab er sich auch.
Doch
wenn er in Begoñas Lokal kam und die alten Männer am Tresen mit einem jovialen „Hola tigres — hallo ihr Tiger!“ begrüßte, grinsten
diese zwar geschmeichelt. Sie ließen sich auch gern mal von ihm auf eine Copa einladen oder gaben ihm selbst eine aus, aber er blieb
ihnen in gewisser Weise suspekt. Denn er war ein Fremder, da konnte er noch so
gut Spanisch sprechen, dazu einer, dessen Lebensumstände aus Sicht der
Dorfbevölkerung recht befremdlich schienen. Wieso hatte dieser Mann keine Frau
und keine Familie? Warum hatte er als Deutscher ausgerechnet in Azofra eine
Herberge aufgemacht — und was geschah in diesem Haus, nachts, wenn die Türen zu
waren? Machte er sich etwa an Pilgerinnen heran? Solche Fragen, verstohlen
getuschelt oder zuweilen auch offen an Roland gestellt, wischte dieser mit
einer lässigen Handbewegung oder einem derben Spruch beiseite. Die Vorbehalte
ihm gegenüber räumte er damit natürlich nicht aus.
Außerdem
vermutete ich, dass Roland manchen im Dorf vor den Kopf gestoßen hatte. Mit
seinen locker-lustigen Sprüchen konnte er zuweilen auch recht verletzend sein
oder die Höflichkeitsgrenze überschreiten, ohne es zu merken. Freundliche Seelen
wie Begoña und Enrique sahen ihm das nach, weil sie wussten, dass er es nicht
wirklich böse meinte. Andere nahmen es ihm auf lange Sicht übel und zahlten es
ihm auf ihre Weise heim, indem sie gegenüber Pilgern die Existenz der
Privatherberge leugneten oder sie davor warnten, dort abzusteigen.
Generell
haben Privatherbergen entlang des Camino keinen leichten Stand.
Anders
als die kommunalen oder die Pfarrherbergen müssen sie sich vollkommen selbst
tragen, bekommen keine Unterstützung von Gemeinde, Kirche oder irgendeiner
Jakobusgesellschaft. Doch trotz knapper Kalkulation und — nach meiner Erfahrung
— durchaus angemessenen Preisen sehen sie sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt,
Pilger „abzocken“ zu wollen.
In
Azofra hatte ich einen groben Einblick in die Finanzlage der Herberge. Rund 650
Pilger, erzählte mir Roland, seien im ersten Jahr bei ihm abgestiegen.
Hochgerechnet mit acht Euro pro Person ergab das eine Brutto-Jahreseinnahme von
5.200 Euro, der erhebliche Investitionen und Kosten gegenüberstanden. Das
entsprach wahrhaftig nicht der viel zitierten „goldenen Nase“, die
Privatherbergen sich angeblich verdienten.
Dennoch
gibt es kirchliche Stellen und Gemeinden, die den Standpunkt vertreten, nur
ihnen stünde es traditionell zu, Pilger zu beherbergen, weil privat betriebene
Albergues der Kommerzialisierung des Camino Vorschub leisteten. Dabei übersehen
sie geflissentlich, dass mit dem Jakobsweg von Anfang an auch wirtschaftliche
Aspekte verbunden gewesen waren, dass Handel und Pilgerfahrt sich gegenseitig
förderten und manche Orte nur deshalb blühten, weil zahllose Pilger auf der
Durchreise hier Geld ließen. Obwohl heutzutage kirchliche und kommunale
Herbergen allein dem ständig wachsenden Bedarf an Pilgerunterkünften kaum
nachkommen könnten, werden den Betreibern privater Albergues mancherlei Steine
in den Weg gelegt.
Um
ihre Position bei rechtlichen Fragen und anderen Problemen zu stärken,
schlossen sich deshalb Anfang dieses Jahrtausends eine Reihe von
Privatherbergen zu einem Netzwerk zusammen, dem Red de Albergues Camino de Santiago. Gemeinsam gaben sie ein Verzeichnis
sämtlicher — nicht nur der privaten —
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