Raum in der Herberge
Pyrenäen bis Burgos — das ist zum Eingewöhnen. Der zweite
geht von Burgos bis León — da weiß man dann schon, auf was es beim Camino
ankommt. Und hinter León nach Galicien hinein, da beginnt der Weg der Wunder.“
„Was
für Wunder denn?“, lautete darauf regelmäßig die Frage.
„Tja“,
meinte Roland gedehnt mit wissendem Lächeln. „Das muss jeder selbst
herausfinden.“
Angesichts
von Rolands Unterhaltungstalent fragte ich mich anfangs, was ich eigentlich den
Pilgern bieten könnte — außer blitzblank geputzten Räumen, die sie aber nicht
unbedingt meinen Aktivitäten zuschrieben. Doch es stellte sich rasch heraus,
dass meine Zurückhaltung, mein freundliches Abwarten genau das waren, was eine
Reihe von Pilgern wollten . Während Roland oben den
Alleinunterhalter gab, setzte sich unten der ein oder andere zu mir in den Flur
und suchte das Gespräch. Meist begann es mit der Frage, ob ich immer hier in
Azofra sei und seit wann. Ich erklärte dann meinen Status und wenn sie in
diesem Zusammenhang hörten, dass ich den Camino ein Jahr zuvor selbst gemacht
hatte, begannen sie sich zu öffnen. Sie berichteten mir von ihren Erfahrungen —
wie sie die Dinge um sich herum anders als sonst wahrnahmen und ihr Leben
Zuhause aus verändertem Blickwinkel zu betrachten begannen. Vielen war es
ähnlich ergangen wie mir seinerzeit; sie hatten ihre Pilgerreise nicht aus
einem bestimmten Grund angetreten, sondern weil sie den dringenden Wunsch
verspürten, ihn jetzt zu gehen, weil die Zeit dafür reif war. Nicht sie
hatten sich für den Camino entschieden, vielmehr hatte dieser sie geradezu
gerufen. Ursprünglich hatte ich mir vorgestellt, dass ich mit den Gästen der
Herberge regelrecht Interviews machen würde zu ihren Beweggründen für die
Pilgerreise, zu ihrer Meinung über die viel zitierte Magie des Camino.
Angesichts des Vertrauens, das sie mir in meiner Funktion als Hospitalera
entgegenbrachten, hätte ich das nun aber sehr unpassend gefunden und hielt mich
deshalb zurück.
Ein
junger Mann aus Toledo erzählte mir eines Abends sein ganzes Leben — in rasend
schnellem Spanisch, sodass ich nur Bruchstücke verstand, aber irgendwann merkte
ich, es kam ihm gar nicht darauf an, ob ich sämtliche Einzelheiten mitkriegte.
Er wollte einfach das alles loswerden und es tat ihm gut, dafür ein Gegenüber
zu haben.
Mir
fiel in diesem Zusammenhang ein, wie der Schauspieler Larry Hagman einmal in einer Fernseh-Talkshow erzählte, dass er sich auf einer
Wohltätigkeits-Veranstaltung als Zuhörer zur Verfügung gestellt habe. Die
Menschen mussten ihm ein paar Dollar bezahlen und dafür konnten sie ihm zehn
Minuten lang erzählen, was immer sie wollten. Ohne Fragen, ohne Kommentar hörte
er ihnen einfach nur zu — und dafür gab es einen Riesenandrang. Offenbar haben
auf dieser Welt viel zu viele Menschen niemanden, der ihnen wirklich zuhört.
Nicht
nur für Pilger, auch für Roland übernahm ich oft die Rolle der Zuhörerin.
Spätabends, wenn wir in der Küche saßen, Wein tranken und warteten, dass die
letzten Pilger vom Essen kämen, damit wir das Haus zuschließen konnten,
erzählte er gern von seinem Leben. Chaotisch und unzusammenhängend, von einem
Thema zum anderen springend, warf er mir Puzzlestücke seiner Vergangenheit zu,
die nicht einfach zusammenzusetzen waren, da er manches heute so und morgen so
erzählte. Seine Geschichte konnte ich mir deshalb nur im Groben zusammenreimen.
In
Deutschland geboren und aufgewachsen, war er viel in der Welt herumgekommen. Er
hatte in der Touristikbranche gearbeitet, in verschiedenen Ländern gelebt und
zuletzt ein Anwesen in Südfrankreich gehabt, das er verkaufte, um das Haus in
Azofra zu erwerben. Seine Frauengeschichten — und davon gab es offenbar eine
Menge — schienen stets nach dem gleichen Muster zu verlaufen. Wann immer es
Probleme gab, machte sich Roland auf und davon, ein chronischer Flüchter , der lieber alles hinwarf, als sich Diskussionen
zu stellen.
Im
reifen Alter von Mitte fünfzig lernte er dann auf dem Jakobsweg seine (wieder
einmal?) große Liebe kennen, eine Schweizerin, mit der er noch mal ganz neu
beginnen wollte. Am Camino sollte er stattfinden, dieser Neuanfang, in einer
kleinen Privatherberge, die sie beide gemeinsam führen würden. Dazu hatte
Roland ein geeignetes Haus gesucht und es in Azofra gefunden. Als ich
seinerzeit auf meiner Pilgerreise in seiner Albergue übernachtete, hatte er
sich gegeben, als stünde die Ankunft seiner
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