Raum in der Herberge
Begleiter, zum
Essen gebeten.
„Morgen geht’s los auf den
Camino“, erzählte Isabel bei Tisch voller Vorfreude, „und zwar mit Alfredo aus
Molina und einigen seiner Freunde. Das wird bestimmt lustig.“
Beneidete ich sie darum? Ich
wusste nicht recht — jetzt im beginnenden Winter würde es in den meisten
Herbergen sicher ganz schön ungemütlich sein, nicht überall würde es Heizöfchen
geben wie in Mansilla oder Kamine wie in Molinaseca. Nach dem Essen machten
sich Laura, Rebeca und José Ramon auf den Heimweg und Isabel führte mich an
meinem neuen Wirkungsort herum, zeigte mir mein Zimmer. Es lag im Wohntrakt der
Familie und war sehr klein aber mit Heizung, wie ich erleichtert feststellte.
Vom Fenster aus konnte ich in den Innenhof und über das Dach des
gegenüberliegenden Wirtschaftsgebäudes auf die weite Landschaft sehen. Die
Albergue war einst ein Bauernhof gewesen, im typischen Stil der Gegend gebaut.
Wirtschafts- und Wohngebäude umschlossen einen großen Innenhof, zu dem sich
Fenster und Türen öffneten — eine Anlage wie eine kleine Trutzburg, von der
Straße her durch ein großes Tor zu erreichen. In den neunziger Jahren hatte die
Familie das Gehöft umgebaut, um sich statt der Haltung von Vieh nun der Haltung
von Pilgern zu widmen. Schlafsäle und Sanitäranlagen wurden eingerichtet, sowie
eine offene Bar mit langem Tresen im Patio, wo es Getränke und kleinere
Gerichte gab.
Rund siebzig Pilger konnten in
dieser Herberge bequem übernachten, mit Improvisation und unter Zuhilfenahme
von Matten ließen sich gar über 100 Menschen unterbringen — im Sommer in der
Hochsaison.
Jetzt im Winter war die Bar
geschlossen, die großen Schlafsäle ebenso. Nur ein kleinerer Raum mit sechzehn
Betten stand den Pilgern zur Verfügung, dazu Sanitäranlagen und der
Aufenthaltsraum mit Kochecke und — ganz wichtig — einem Kamin. Mein
Arbeitsbereich war also ausgesprochen überschaubar.
„Wird dir nicht langweilig
werden?“, fragte Isabel denn auch besorgt.
„Ich habe jede Menge Bücher
dabei“, beruhigte ich sie, „außerdem kann ich hier in der Gegend doch sicher
ein bisschen wandern, wenn gerade nichts los ist.“
„Bestimmt kannst du das“,
nickte Isabel, „obwohl — es ist schon erstaunlich, wie viel jetzt noch los ist
auf dem Camino. Ein merkwürdiges Jahr ist das heuer.“
Später machte ich einen
Rundgang durchs Dorf. Die meisten Häuser waren verrammelt und verriegelt, bei
einigen sogar die Fenster mit Brettern zugenagelt. Immerhin hatten die beiden
Lokale geöffnet, das „Meson“ gegenüber der Kirche und Gaspars „Posada“ oben am
Ende der Dorfstraße. „Gibt’s hier keine Geschäfte?“, fragte ich, nachdem ich
zurück war.
Esperanza, Isabels Mutter,
schüttelte den Kopf. „Alles zu im Winter.“
Immerhin, so erfuhr ich, kam
allmorgendlich der Bäckereiwagen und hupte vor den bewohnten Häusern, brachte
Brot, Kuchen, Zeitungen. Einmal pro Woche fuhr der Drogeriehandler das Dorf an
und dienstags, wenn in Astorga Wochenmarkt war, ging am Vormittag ein Bus
dorthin und mittags wieder zurück — die einzige Busverbindung in der Woche.
„Wie viele Menschen leben hier
eigentlich im Winter?“, erkundigte ich mich ein wenig beklommen.
„An die dreißig, vierzig — fast
alles Rentner“, meinte Esperanza ungerührt. „Diejenigen, die es sich leisten
können, sind über den Winter in ihren Wohnungen in Madrid und kommen erst im
Sommer wieder hierher. Dann leben über 200 Menschen in Rabanal.“
Im Sommer, erinnerte ich mich,
hatte ich im Dorfbild und in den Kneipen allerhand
bunt gewandtes Alternativvolk gesehen, war mit einigen ins Gespräch gekommen,
die Schnickschnack verkauften oder Massagen anboten. Jetzt waren sie alle in
wärmere Gefilde gezogen. Bei meinem Rundgang hatte ich keinen Menschen gesehen,
die zugigen Gassen schienen wie ausgestorben.
Meine Güte, dermaßen trostlos
hatte ich es mir doch nicht vorgestellt. Ein wenig erinnerte mich das Ambiente
an den Film „ Shining “. In diesem Psychoschocker
spielt Jack Nicholson einen Schriftsteller, der sich mit seiner Familie in ein
abgelegenes, geschlossenes Hotel zurückzieht, um es über den Winter einzuhüten —
und in dieser Einöde wahnsinnig wird. Das würde mir hoffentlich nicht
passieren.
Abends nahmen Isabel und ihr
Bruder José mich mit auf eine Copa in Gaspars Posada.
Er stand selbst hinter dem Tresen und freute sich, mich wiederzusehen. Doch
weil er ein zurückhaltender Mensch war, zeigte er das
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