Raum in der Herberge
steigenden Pilgerzahlen wohl sehr verändern würde, gab
er mir Folgendes zu bedenken. „Nicht der Camino ändert sich — wir sind
es, die sich verändern. Aber vergiss eines nicht — jeder macht seinen eigenen
Camino. Und es ist gut, dass jeder Einzelne auch die Freiheit hat, ihn so zu
machen, wie er will. Schließlich ist diese Erfahrung sehr persönlich, genauso
wie die Motivation, die einen auf den Weg bringt. Niemand hat das Recht, einem
anderen zu sagen, wie er seinen Camino zu machen habe.“
Wohl war — aber angesichts der
Massen, die in der Hochsaison die Herberge stürmten und abends Party im Patio
machten, konnte man das zuweilen vergessen. Und ich verstand hauptamtliche
Hospitaleros, die den ganzen Sommer über dem Trubel ausgesetzt waren, sehr gut,
wenn sie mit einer gewissen Wehmut auf frühere ruhigere Zeiten zurückblickten.
Gelegentlich ließ ich meine
bisherige Hospitalera-Zeit vor meinem inneren Auge Revue passieren und fand,
dass ich viel Glück gehabt hatte mit allen drei Einsatzorten, trotz des
Zerwürfnisses mit Roland. An jedem Ort hatte ich eine andere Rolle eingenommen
und andere Einblicke gewonnen in das Herbergswesen, spanische Sozialstrukturen,
die Befindlichkeiten von Pilgern und in das Phänomen Camino — und für mich
persönlich viel gelernt.
Hier in Mansilla hatte ich
darüber hinaus unerwartet Familienanschluss gefunden, der weit über die
Teilnahme an den täglichen Mahlzeiten hinausging. Deutsche Zurückhaltung im
Blut war ich anfangs etwas verlegen, wenn ich wie selbstverständlich zu
Familientreffen mitgenommen, Freunden und Verwandten im Ort vorgestellt wurde,
als sei ich tatsächlich eine Cousine oder Stiefschwester. Aber ich gewöhnte
mich schnell daran, es gefiel mir, Teil einer großen Sippe zu sein, was
vermutlich mit daran lag, dass ich in Deutschland eben keine solche hatte.
In Spanien spiele die Familie
im Allgemeinen noch eine sehr große Rolle, hatte ich mal irgendwo gehört oder
gelesen, nach wie vor sei sie ein Schutz- und Auffangnetz bei allen möglichen
Schwierigkeiten. Man stehe nie allein da.
Gut und schön, dachte ich
seinerzeit, aber manchmal kann so ein Netz sicher auch gefangen halten.
In Mansilla erlebte ich
allerdings eher die positiven Funktionen dieses Familiennetzes, sah, wie
dehnbar es bei Belastungen war.
„Bei uns zeigt man viel mehr
Gefühl als bei euch in Deutschland“, erklärte mir Ana, „wir fassen uns mehr an,
sind liebevoller und herzlicher — allerdings halt auch lauter, wenn wir
streiten.“
Ich verstand immer besser,
warum Wolf so gerne in Spanien war und in Deutschland regelrecht Heimweh nach
Mansilla hatte. Da er jedes Jahr für mehrere Monate kam, war er natürlich noch
weit mehr ein Teil von Lauras Familie als ich, die ich nur vorübergehend da
war. Im Ort wurde er respektiert und geschätzt. Vermutlich lag das auch daran,
dass er die Sitten und Gepflogenheiten genau achtete und niemanden mit
unbedachten Äußerungen vor den Kopf stieß.
„Wenn du so gerne hier bist,
warum bleibst du nicht das ganze Jahr?“, fragte ich ihn.
„Na ja, irgendwann muss ich
daheim auch mal meine Familie verprügeln“, meinte er mit schiefem Grinsen.
„Nein, im Ernst — ich habe mein Haus in Deutschland und außerdem ist hier im
Winter sowieso nichts los. Die Herberge ist dann im Prinzip zu und an der Tür
hängt ein Zettel mit Lauras Telefonnummer — für die wenigen, die unterwegs
sind.“
Winterpilger seien ganz anders,
das hatte ich schon von Roland und Alfredo gehört und auch Wolf und Laura
betonten es immer wieder, wenn wir über den hochsaisonlichen Jakobszirkus mit all seinen Auswüchsen sprachen. Ich konnte mir das durchaus
vorstellen — wer in der unwirtlichen kalten Jahreszeit den Camino ging, der
musste eine besondere Motivation haben. Aber welche?
Allmählich reifte in mir die
Erkenntnis, dass — was immer ich über meine Hospitalera-Zeit schreiben würde — unvollständig
bliebe, wenn ich nicht auch den winterlichen Camino und seine Pilger
kennengelernt hätte. Wieder einmal zog ich Wolf zu Rate, wo ich am besten im
November oder Dezember als Hospitalera arbeiten könnte. Nach kurzer Überlegung
empfahl er mir die private Herberge in Rabanal del Camino, jenem kleinen Dorf
im Gebirge oberhalb von Molinaseca.
„Die hat das ganze Jahr über
offen, nicht nur einen Zettel an der Türe für den Bedarfsfall. Und so ein
einsames Bergdorf im Winter...“
Er brauchte gar nicht weiter zu
sprechen, ich war bereits
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