Raum in der Herberge
einigen von ihnen Wein in der
Posada getrunken hatte, verstand ich, was meine Kollegen gemeint hatten.
Von Pilgern in den wärmeren
Jahreszeiten hatte ich oft gehört, dass sie — wie ich seinerzeit auch — das
Gefühl gehabt hätten, sie sollten jetzt den Jakobsweg gehen. Doch dabei
überlagerten sportlicher Ehrgeiz, touristische Ambitionen, Kontaktbedürfnis
vielfach die eigentliche Motivation für den Camino und sie brauchten manchmal
lange, um zu merken, warum sie sich tatsächlich auf den Weg gemacht hatten. Die
Pilger, die jetzt unterwegs waren, hingegen wussten gemeinhin sehr genau, warum
sie den Camino gingen. Eine ganze Reihe war tatsächlich aus Glaubensgründen
unterwegs, also Pilger im ursprünglichen Sinne, und die meisten standen an
einer Schnittstelle ihres Lebens — genau wie ich selbst gerade. Ob wir nun in
jenem November den Camino gingen oder in einer Albergue die Stellung hielten,
ob wir älter waren oder jünger, befanden wir uns in einer ähnlichen Situation,
wo für uns etwas zu Ende ging und etwas Neues begann, von dem es oft noch
unklar war, wie es aussehen würde.
Während ich das entdeckte, wurde
mir zugleich bewusst, dass ich bei diesem Hospitalera-Einsatz — wieder einmal —
eine andere Rolle eingenommen hatte. Hier in Rabanal war ich — im Sinne dessen,
was Alfredo einmal gesagt hatte, nämlich dass auch Hospitaleros Pilger seien,
wenn auch auf andere Art — eine Pilgerin unter Pilgern und wurde von ihnen auch
als ihresgleichen betrachtet. Das lag weniger daran, dass ich den ganzen
Nachmittag bei ihnen im Aufenthaltsraum saß oder dass ich mit derben
Wanderstiefeln, dicken Socken und mehreren Schichten warmer Kleidung
zwiebelartig übereinander ziemlich pilgermäßig aussah. Vielmehr einte uns die
Hoffnung, dass uns der Camino in der Umbruchsituation, in der wir uns jeweils
befanden, irgendwie weiterhelfen könne.
Junge Menschen standen an der
Schwelle zu Studium oder Beruf, wie der ehemalige Zivildienstleistende aus
Deutschland, der noch herausfinden musste, welchen beruflichen Weg er
einschlagen wollte. „Und weil ich doch Jakob heiße, hab ich mir gedacht, ich
sollte den Jakobsweg machen.“
„Weißt du denn jetzt, was du
werden willst?“, fragte ich ihn. „Noch nicht ganz genau, aber es nimmt immer
klarere Formen an. Auf jeden Fall wird es etwas im Sozialbereich sein.“ Andere
Pilger standen zwischen zwei Arbeitsverhältnissen oder hatten ihren bisherigen
Beruf aufgegeben, um sich einer neuen Beschäftigung zuzuwenden. Ein
Südafrikaner Mitte dreißig plante sogar ein ganz neues Leben in Europa, weil er
die nach wie vor herrschenden Spannungen zwischen Schwarz und Weiß in seinem
Heimatland nicht mehr ertrug. Er hoffte, sich auf dem Camino darüber klar zu
werden, wie und wo genau er künftig leben wollte.
Einen neuen Lebensabschnitt
hatte auch ein reizendes Ehepaar aus der Schweiz vor sich, das ich eines Abends
in der Posada traf. Der Mann war gerade pensioniert, die Kinder aus dem Haus.
Deshalb wollten die beiden nun etwas Außergewöhnliches zusammen machen — als
Zwischenglied zwischen der Berufstätigkeit und dem Rentnerleben — etwas, an das
sie sich später gemeinsam gern erinnern würden. Dazu gingen sie den Camino in seiner
langen Form, waren bei sich Zuhause in Zürich
losmarschiert.
„Eigentlich wollten wir es ganz
echt machen mit Übernachtung in den Herbergen“, erzählte die Frau, eine
bildschöne Person mit langen eisgrauen Haaren und strahlend blauen Augen, „aber
dann musste ich feststellen, das ging nicht. Ich kann einfach nicht schlafen,
wenn jemand schnarcht oder ein Notlicht brennt. Also sind wir jetzt in Hotels.“
Sie lächelte ein wenig bedauernd. „Das ist halt auch so eine Erfahrung auf dem
Camino, dass manches eben nicht mehr möglich ist und das muss man akzeptieren.“
Selbst die beiden japanischen
Studenten, die ich bereits in Mansilla gesehen hatte, waren nicht aus
touristischen Gründen unterwegs, suchten kein exotisches Abenteuer in einem für
sie fremdartigen Land, wie ich ihnen anfangs unbesehen unterstellt hatte.
„Na, ihr beiden, was hat euch
denn auf den Camino gebracht?“, fragte ich, während sie in der Kochecke der
Herberge ihren Reis zubereiteten. „Doch wohl kaum der Heilige Jakobus?“
„Nein, das nicht“, antwortete
der Ältere von beiden in erstaunlich gutem Englisch und erzählte mir, dass er
sein Studium in Japan für ein Jahr unterbrochen habe, um in Dublin Englisch zu
lernen. Diese Zeit war nun zu Ende,
Weitere Kostenlose Bücher