Raum in der Herberge
nicht überschwänglich,
sondern indem er mein Glas nie leer werden ließ und ich nichts bezahlen durfte.
Am anderen Morgen brach Isabel
auf ihren Camino auf und mein Alltag in Rabanal begann. Von meinen bisherigen
Einsatzorten daran gewöhnt, dass Pilger früh losmarschierten, stand ich kurz
vor acht auf, um im Aufenthaltsraum nach dem Rechten zu sehen. In jener Nacht
war der Schlafsaal voll belegt gewesen und die meisten dieser Pilger saßen nun
noch beim Frühstück oder sie packten gerade ihre Sachen zusammen. Eigentlich
hätte ich mir denken können, dass im Winter alles gemächlicher zuging und dass
keiner auf die Idee kam, sich im Morgengrauen auf den Weg zu machen. Deshalb
ging ich zurück in die Familienküche, wo ich mir einen Tee braute und erst mal
abwartete. Gegen neun tauchte Mutter Esperanza auf, kochte sich Kaffee und
setzte sich zu mir, um ihn in aller Ruhe zu trinken. Anschließend wies sie mich
im Pilgertrakt ein.
„Um den Kamin brauchst du dich
nicht zu kümmern“, meinte sie dabei, „das mit dem Funkenschutz ist ein bisschen
kompliziert — deshalb mach ich das.“
Mir sollte es nur recht sein,
wie ich in der nächsten Zeit überhaupt alle Dinge nahm, wie sie kamen. Die
Pilger hatten an meinem ersten Morgen alles ziemlich ordentlich hinterlassen,
das hieß, ich war rasch mit der Arbeit fertig, und weil ich nichts besseres zu tun wusste,
schlenderte ich durch das geisterhafte Dorf zur Posada.
Ich bestellte einen Café con
leche und Gaspar schob mir dazu ein Pastel , ein Kuchenteilchen, hin und wartete ab, ob ich ein Gespräch beginnen wollte.
Ich sollte ihn in meinen zwei Wochen Rabanal sehr schätzen lernen mit seiner
zurückhaltenden Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Fast jeden Tag sah ich
bei ihm vorbei, auf einen Kaffee oder abends auf ein Glas Wein. Dabei führten
wir keine tiefschürfenden Unterhaltungen, denn Gaspar war kein Mann großer
Worte. Gelegentlich erzählte ich ein bisschen, unter anderem von meiner
momentan etwas desolaten Situation in Deutschland, und er hörte zu. Ansonsten
schwiegen wir freundschaftlich miteinander.
„Ganz schön einsam das Dorf im
Winter“, meinte ich an diesem Morgen, „ich bin ja jetzt nur für kurze Zeit da —
aber wenn man hier lebt, ist es sicher nicht einfach.“
„Hm, brummte Gaspar und
erklärte, dass er und seine Familie nicht in Rabanal wohnten, sondern in
Astorga, wo er ein weiteres Hotel habe. Das müsse ich mir bei Gelegenheit mal
ansehen, genauso wie das alte Herrenhaus, das er gerade zu einer Herberge
umbaue.
„Im Übrigen — wenn dir mal
langweilig wird, komm nur vorbei. Du kannst dann mein Auto haben und irgendwo
hinfahren“, bot er mir an, bevor ich wieder in die Albergue ging.
„Aber er kennt mich doch kaum“,
sagte ich später zu José, „er weiß lediglich, dass ich bei Alfredo in Molina
gearbeitet habe und jetzt bei euch Hospitalera bin.“
„Das reicht hier bei uns“,
erklärte José.
„Wie viele Pilger kommen heute —
was glaubt ihr?“, hatte ich an meinem ersten Tag beim Mittagessen gefragt.
„Höchstens fünf bei dem Wetter“, meinte José, denn es regnete Bindfäden.
„Mindestens acht“, setzte ich
dagegen.
Letztlich wurde es ein gutes
Dutzend und das Tippen der richtigen Zahl entwickelte sich zu einem Spielchen,
das wir — wenn auch ohne Wetteinsatz — jeden Tag spielten und an dem sich die
ganze Familie beteiligte. Meistens lagen wir alle falsch, tippten zu niedrig.
Obwohl November und trotz des regnerischen, kalten Wetters waren eine ganze
Reihe Pilger auf dem Camino unterwegs. Ruhige Tage, an denen nur vier oder fünf
in der Herberge abstiegen, gab es selten, oft hatten wir ein Dutzend oder mehr
Gäste.
Es war zumeist früher
Nachmittag, wenn die ersten eintrafen. Um mir den häufigen Hin- und Herweg vom
Wohnhaus zum Pilgertrakt zu sparen, machte ich es mir nach dem Mittagessen im
Aufenthaltsraum gemütlich, wo der Kamin bereits brannte, wartete auf Kundschaft
und versuchte, mich dem Phänomen Winterpilger anzunähern.
Waren sie wirklich „anders“,
wie erfahrene Hospitaleros immer wieder behaupteten?
Zunächst wusste ich nicht
recht, wie ich das feststellen sollte. Mir schien zwar, es seien mehr ältere
als junge Leute unterwegs, mehr Männer als Frauen, aber letztlich war das weder
ein durchgängiges Muster noch irgendwie bedeutungsvoll. Nach ein paar
Nachmittagen allerdings, die ich bei den Pilgern im Aufenthaltsraum verbracht
hatte, nach ein paar Abenden, an denen ich mit
Weitere Kostenlose Bücher