Raum in der Herberge
essentiell notwendig. Wenn sie hörten, dass in Rabanal zu dieser
Jahreszeit kein Geschäft geöffnet hatte, zuckten sie die Achseln und
lamentierten nicht. Sie fragten entweder nach Restaurants oder ob hier auf dem
Hof etwas zu essen verkauft würde, nahmen klaglos mit Kartoffeln und Eiern
vorlieb, wenn Esperanzas Vorratskammer nichts anderes hergab. Salopp gesagt,
sie waren einfach anders drauf als die sommerlichen Wanderer.
Außerdem kannten sie sich fast
alle untereinander, was nicht verwunderte, weil weniger Menschen unterwegs und
weniger Herbergen geöffnet waren, die Treffpunkte sich also konzentrierten.
„Ist XY schon vorbei
gekommen?“, lautete die gängige Frage bei der Ankunft, die Wiedersehensfreude
war jedesmal groß und manchen Pilgern liefen
Anekdoten voraus oder hinterher, wie zum Beispiel „dem Typen mit dem
Regenschirm“.
Bram — eines Mittags, ich war
noch in der Familienküche, da hörte ich im Hof meinen Namen rufen, und da stand
er mit seinem Schirm als erster Pilger dieses Tages.
Abends lud er mich zum Essen in
die Posada ein und dabei erzählten wir uns gegenseitig von unserem Leben und
von Fragen, die uns beschäftigten. Bram hatte lange einen kleinen Fachverlag
besessen und ihn nun veräußert — „samt Ehefrau“, wie er sagte. Sie arbeitete
unter dem neuen Besitzer in derselben Funktion weiter und er hatte sich ein
Sabbatjahr genommen, war auf dem Camino gelandet — magisch angezogen und ohne
zunächst genau zu wissen, was er dort suchte.
Er hatte einige wenige Bücher
dabei, die er schon kannte, nun aber mit neuem Verständnis las. Eines davon
hieß „Götter in jedem Mann“, wobei es um Charakterzüge der griechischen Götter
ging, die jeder Mann in sich wiederfinden könne — ein interessanter
psychologischer Ansatz.
„Ich bin Sternzeichen
Zwilling“, erklärte Bram, „und da ist es nicht verwunderlich, dass ich zwei
Götter in mir habe, wie mir jetzt erst richtig klar geworden ist. Ich bin
sowohl der verschlagene, abenteuerlustige Hermes wie auch der ordnende Apollo
und ich muss sehen, wie ich das künftig zusammenbringe.“
Ein Buch „Göttinnen in jeder
Frau“ gab es seines Wissens nach leider nicht. Dennoch sinnierte ich laut, von
welchen der unsterblichen Bewohnerinnen des Olymp ich
Charakterzüge in mir tragen könnte.
„Ich habe sicher etwas von
Artemis, immer allein unterwegs auf der Jagd, aber ebenso etwas von Athene, die
wegen ihres Intellekts geschätzt wird und dabei doch so gerne auch mal einfach
nur Frau wäre. Und als Hospitalera am Camino war ich außerdem noch Hera, die
Mütterliche, die sich kümmert. Ich wusste gar nicht, dass ich das auch in mir
habe. „Ja, ja, der Camino bringt manchmal erstaunliche Einsichten“, nickte
Bram.
„Und welche Einsicht hat dir
der Camino noch gebracht?“
„Dass ich in Zukunft ganz
anders mit meinen Kindern umgehen will.“
Bram hatte einen Sohn und eine
Tochter, beide im Teenager-Alter. Nach seiner Rückkehr wollte er ihnen mit
neuem Verständnis begegnen: „Schluss mit der Erziehung — jetzt will ich nur
noch Ratgeber sein.“
Was für ein liebevoller
Vorsatz, freundschaftlichen Beistand anstelle der väterlichen Autorität zu
setzen — hoffentlich wussten das seine Kinder zu schätzen.
Hatte ich es zunächst als
Herausforderung betrachtet, mich in Rabanal in diese für mich fremdartige
Lebenswelt einzupassen, merkte ich bald zu meinem eigenen Erstaunen, dass mir
das überhaupt nicht schwer fiel. Mir war nie langweilig und ich sehnte mich
nicht weg, im Gegenteil, ich fühlte mich in diesem einsamen, abgeschiedenen
Gebirgsdorf immer wohler, wobei es sicher eine große Rolle spielte, dass ich in
eine Familie eingebunden war, deren Alltag ich teilte. Anfangs war ich ein
wenig unsicher gewesen, wie ich damit klar käme, derart eng mit der Familie
zusammen zu sein — und umgekehrt, wie sie mit mir zurecht kämen. In Mansilla hatte ich zwar bereits Familienanschluss gehabt, aber wir
hatten nicht unter einem Dach gewohnt. Auch wusste ich erst nicht recht, wie
ich Mutter Esperanza und Vater Serafín anreden sollte, ohne respektlos oder zu
formell zu sein. Schließlich entschloss ich mich, Josés Beispiel zu folgen und
sie beim Vornamen zu nennen.
Ich hätte mir gar keine
Gedanken zu machen brauchen, ohne Aufheben wurde ich wie ein Familienmitglied
integriert, aber in einer anderen Rolle als in Mansilla. Dort war ich eine Art
Schwester-Cousine gewesen, hatte mich mit Ana gut verstanden, weil wir fast
Weitere Kostenlose Bücher