Raumfahrergarn
Nachdem sie ihren Widerwillen gegen den Schwerweltler zugegeben und sich besorgt darüber gezeigt hatte, daß diese Einstellung auf ihren Patienten negative Auswirkungen gehabt haben könnte, hatte Root sie beraten und anschließend mit Rik-ik-it gesprochen. Er war davon überzeugt, daß nichts an ihr verkehrt war, was nicht durch etwas intensiveren Umgang mit solchen Patienten gerichtet werden könnte. Er milderte ihre Angst, womöglich fremdenfeindlich gesonnen zu sein. »Ein wütender Schwerweltler«, versicherte er ihr, »kann einen normalen Menschen leicht aus der Fassung bringen. Sie sollten hoffen, daß sie keinem ihrer Impunitaten begegnen.«
Sie war ihm dankbar, daß er den Vorfall nicht als eine größere Abweichung von der Normalität betrachtete, und schwor sich, in Zukunft einen kühleren Kopf zu bewahren. Bisher war ihre neue Entschlossenheit noch nicht auf die Probe gestellt worden, denn nur wenige Schwerweltler nutzten die medizinischen Einrichtungen.
Die Universitätsklinik behandelte alle Studenten kostenlos, und auch von Außenstehenden wurde nur eine symbolische Gebühr verlangt. Unfallopfer wie die Montagearbeiter wurden meistens direkt in die Universitätsklinik gebracht, weil sie dort nicht so lang auf ihre Behandlung warten mußten wie in privaten Einrichtungen. Die meisten Studenten, die Lunzie auf Astris sah, waren menschlicher Abkunft, doch nicht deshalb, weil nichtmenschliche Spezies weniger Interesse an einer akademischen Ausbildung hatten oder diskriminiert wurden, sondern weil die meisten Spezies in der Lage waren, ihren Nachkommen neue Kenntnisse schon im Mutterleib oder im Ei zu vermitteln und daher pro Familienzweig nur einer eine Ausbildung absolvieren mußte. Menschen brauchten eine Ausbildung nach ihrer Geburt, was manche andere Rassen in der FES, insbesondere die Seti und die Weber, für eine furchtbare Zeitverschwendung hielten. Lunzie empfand das Prahlen mit dem kollektiven Gedächtnis und anderen Vorzügen einer Rasse als Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes und zog es vor, auf solche Bemerkungen nichts zu erwidern. Ein kollektives Gedächtnis war nur in Situationen nützlich, wenn die eigenen Vorfahren schon mit ähnlichen Umständen zu tun gehabt hatten. Sie behandelte zahlreiche Weber, die Maschinenbau studierten, gegen Dehydrierung, an der sie häufig während ihrer ersten Semester auf Astris litten. Junge Seti, die auf Astris interplanetare Diplomatie studierten, neigten dagegen zu Verdauungsbeschwerden und mußten erst lernen, welche auf Astris angebauten Nahrungsmittel sie zu meiden hatten.
* * *
Es war ein langweiliger Tag im Büro gewesen. Keine ihrer Krankengeschichten verlangte sofortige Aufmerksamkeit, deshalb stapelte sie die Unterlagen auf dem Sofa und trank eine Tasse Tee. Sie hatte noch etwas Zeit, um sich zu entspannen, bevor sie sich bei Dr. Root melden mußte. Er war ein guter und geduldiger Lehrer, der über ihre Abneigung gegen die medizinischen Apparate nur lächelte, statt sie für ihre altmodischen Ideale zu tadeln. Lunzie hatte wieder Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Sie bestand immer noch darauf, eine persönliche Beziehung zu ihren Patienten aufzubauen, aber es gab immer weniger Arbeit für einen Heiler. Lunzie spürte, daß es ein Fehler war, wenn die Studenten lernten, sich zu sehr auf technische Hilfsmittel zu verlassen. Sie vertrat immer noch fest die Überzeugung, daß ein Heiler mehr als nur ein Techniker sein sollte. Leider stand sie mit ihrer Meinung allein da.
Ein Streifen Sonnenlicht kroch durchs Zimmer und blieb auf ihren Füßen liegen wie ein zufriedenes Haustier. Lunzie sah sehnsüchtig zu ihrem transportablen Lesegerät hinüber, das Tee ihr zum sechsunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, und zu dem kleinen Regal mit Speicherchips voller klassischer Bücher, die sie in Antiquariaten erstanden hatte. Eine ungekürzte Werkausgabe von Rudyard Kipling, die ihre eigene heißgeliebte, verlorengegangene Ausgabe ersetzte, lag am Regalrand und lockte sie. Sie hatte zwar keine Zeit mehr, ein wenig in ihren Lieblingsbüchern zu schmökern, bevor sie an die Arbeit gehen mußte, aber zufälligerweise gerade noch genug Zeit, um ihre täglichen Übungen in mentaler Disziplin zu absolvieren. Mit einem Seufzer stellte sie die leere Tasse weg und machte sich warm.
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, Kip«, sagte Lunzie mit Bedauern. »Du hättest es verstanden.«
Ihre Achillessehnen waren inzwischen so dehnbar, daß sie sich
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