Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Nacht nach ihrer überraschenden Begegnung im Centre Georges Pompidou auf Ravens Hotelzimmer zwischen ihnen vorgefallen war.
Aber statt Melissa hatte er nur Jim Hazelwood an den Apparat bekommen, ihren Assistenten, von dem Janice seinerzeit den Namen Sören Anderssons erfahren hatte, des menschlichen Drahtziehers hinter den Kristallschädel-Diebstählen, durch die Raven und Melissa überhaupt erst zusammengekommen waren.
Und dessen Auskunft war verheerend gewesen.
Nein, Melissa McMurray befand sich nicht mehr in London. Sie war schon vor eineinhalb Wochen nach Honduras abgereist, zu den Mayor-Steinbauten von Copan, wo derzeit umfangreiche Grabungen stattfanden, die auch das Thema der Pariser Konferenz gewesen waren. Eine Expedition, die mindestens drei, wenn nicht gar sechs Monate dauern würde ... Ja, sie hatte sich ganz überraschend nach ihrer Rückkehr vom Kontinent dazu entschlossen.
Eine Nachricht für Raven hatte sie nicht hinterlassen. Sie hatte seinen Namen überhaupt nur einmal beiläufig erwähnt, nämlich als sie den Scheck unterschriftsfertig gemacht hatte, mit dem Raven für seine Dienste honoriert worden war. Er sei doch der Privatdetektiv, der mit ihr gemeinsam in Paris und Stockholm den Fall der verschwundenen Kristallschädel aufgeklärt habe?
Ja, der war er. Und er war auch der Mann, der in Paris mit Melissa geschlafen und sich am Morgen danach wie der letzte Idiot benommen hatte - aber das sagte er Hazelwood natürlich nicht. Er bedankte sich nur und legte rasch wieder auf.
Und seither zerbrach er sich den Kopf, ob er an Melissas plötzlichem Entschluss schuld war, so überstürzt nach Honduras abzufliegen. An ihrer Flucht.
Denn eine Flucht war es gewesen, das zeichnete sich immer deutlicher für ihn ab, je länger er darüber nachdachte.
Und auch er selber - Raven - war geflohen. Nur dass er sich nicht in ein fernes Land zurückgezogen hatte, sondern in einen Zynismus, der ihm so gar nicht stand.
Der Weg daraus zurück würde nicht einfach sein ...
»Das ist es! Das ist Hillcrest Manor!«
Der Maserati überwand die letzte regenglatte Steigung, und da lag es vor ihnen, das Herrenhaus der Devlins, ein zweigeschossiger Bau direkt unter der Kammlinie des Hügels.
Janice lenkte den wendigen Sportwagen geschickt um die vorspringende Hausecke und brachte ihn vor dem Haupteingang, einem mächtigen, zweiflügeligen Portal aus alten Eichenbohlen, zum Stehen. Über der Tür baumelte eine gusseiserne, gelbliches Licht verstrahlende Lampe im Wind, und durch mehrere der Sprossenfenster rechts und links des Eingangs fiel ein angenehmer Schein hinaus in die Nacht.
Raven ließ seine Augen über die Front des Hauses wandern und pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Die Leute scheinen wirklich Moos zu haben«, verkündete er anerkennend. »Ist wohl kein schlechter Job, die Schriftstellerei!«
Janice warf ihm einen undefinierbaren Blick zu, während sie den Motor abstellte und auf der schmalen Rückbank des Maserati nach ihren undurchlässigen Regenhäuten tastete. »Versuch's doch mal mit Krimis«, versetzte sie spitz. »Aber schreib möglichst gleich einen Bestseller, sonst nagst du in dem Beruf bald genauso am Hungertuch wie als Detektiv.«
Mittlerweile hatte sie die Pelerinen gefunden und warf Raven eine davon auf den Schoß. Seufzend machte er sich daran, die transparente Haut unter allerlei Verrenkungen anzuziehen. Draußen regnete es immer noch im Strömen; das Wasser stürzte wie in langen Perlenschnüren aus der nachtgrauen Kuppel des Nebels herab. Bis zum Portal waren es nur wenige Schritte, aber Raven hätte es recht angenehm gefunden, wenn die Devlins herausgekommen wären und sie unter Regenschirmen zum Haus geleitet hätten.
Aber drinnen in dem Gemäuer rührte sich nichts. Es lag wie ausgestorben da, trotz der erleuchteten Fenster. Raven spürte ein merkwürdiges Gefühl im Magen, gab jedoch weiter nichts darauf. Er war manchmal nervös, wenn er zum ersten Mal wildfremden Menschen gegenübertrat, bei denen er einen guten Eindruck machen wollte oder musste, weil Janice Wert auf sie legte. Selbst die jahrelange Berufserfahrung als Detektiv und der Umgang mit Klienten aus allen Gesellschaftsschichten hatte daran nichts ändern können. Er seufzte noch einmal, öffnete die Beifahrertür und schwang sich aus dem niedrigen Schalensitz.
Im Nu war seine Regenpelerine mit einem Geflecht aus unzähligen feinen Tröpfchen übersät. Er gab einen Laut des Unbehagens von sich, als die ersten
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