Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Wasserfäden ihren Weg an der Kapuze vorbei in sein Gesicht fanden, und warf rasch die Tür hinter sich zu. Dann eilte er mit raumgreifenden Schritten los, hinüber zu dem Schutz versprechenden Vorbau des Portals. Hinter sich hörte er das Zuschlagen der anderen Tür und Janice' platschende Schritte auf dem pfützenübersäten Asphalt der Auffahrt. Auch sie schien sich keine Sekunde länger als nötig den herabströmenden Regenmassen aussetzen zu wollen, denn obwohl sie später als er losgegangen war, war sie noch vor ihm an der Eingangspforte.
Von drinnen ertönte ein fernes Ding-dong, Ding-dong, als Janice ihre schmale Hand aus dem Schutz des Pelerinenärmels streckte und die Klingel betätigte. Sicherheitshalber tat sie es gleich noch einmal. Ding-dong, Ding-dong.
Immer noch regte sich nichts im Haus. »Die könnten aber auch langsam mal kommen«, beschwerte sich Raven maulig. »Ich finde, das ist nicht gerade die feine englische Art, uns einfach hier im Regen stehen zu lassen!«
Janice funkelte ihn nur kurz unter der Kapuze hervor an, sagte aber nichts. Stattdessen drehte sie sich sogar von ihm weg, wobei sie in Kauf nahm, dass sie halb unter der Überdachung des Portals hervortreten musste. Raven begriff, dass er dabei war, sich die letzte Chance für ein klärendes Gespräch mit ihr an diesem Wochenende zu verbauen. Er hatte den Bogen offenbar schon beinahe überspannt. Wenn er so weitermachte, würden sie als geschiedene Leute wieder von hier wegfahren.
Auf einmal wurden auf der anderen Seite des zweiläufigen Tores Schritte laut. Sie kamen langsam näher, verharrten einen Augenblick, kamen dann wieder näher. Und plötzlich schwang das Portal vor Raven auf.
Er starrte in die Dunkelheit der Halle, versuchte auszumachen, wer ihnen die Tür geöffnet hatte. Warum bloß hatten die Devlins die Flurbeleuchtung nicht angeschaltet? Die merkwürdige Begrüßung verwirrte ihn, machte ihn noch unruhiger, als er es ohnehin schon war. Das unangenehme Gefühl in seinem Magen verstärkte sich. Er wusste, dass hier etwas nicht stimmte, aber noch hatte er keine Ahnung, was.
Instinktiv verlagerte er das Körpergewicht auf seinen anderen Fuß und trat einen halben Schritt zurück. Wer immer sich im Schatten der Halle aufhalten mochte, hatte Janice und ihm gegenüber einen entscheidenden Vorteil. Er konnte sie sehen, sie ihn nicht. Raven gefiel das ganz und gar nicht.
»Hallo!«, sagte Janice um ihn herum. »Funktioniert euer Flurlicht nicht?«
Seine Augen hatten sich jetzt so sehr an das Dunkel gewöhnt, dass er die Umrisse eines Mannes unter der Tür erkennen konnte. Es musste ein Mann sein, denn die Gestalt war groß, klobig und breitschultrig. Wie hatte Janice ihm doch gleich Seymour Devlin beschrieben?
»Nach dem, was Anne mir am Telefon erzählt hat, muss er etwas kleiner sein als du - zierlich gebaut ...«
Der Mann da vor ihm war nicht Seymour Devlin, so viel war klar.
»He, was ist denn eigentlich los?«, erkundigte sich Janice. »Wollen wir nicht ...«
Die Lampe über ihren Köpfen pendelte im Wind. Etwas blitzte im veränderten Einfall der Strahlen.
Ein Lichtreflex auf blank poliertem Metall.
In Ravens Kopf begannen die Gedanken zu wirbeln. Einen winzigen Augenblick lang wollte er nicht glauben, was er sah, aber dann drang die Erkenntnis der Wahrheit bis in die tiefsten Schichten seines Bewusstseins vor. Ein Adrenalinschock rann durch seine Adern, ließ ihn keuchen. Kaum eine Zehntelsekunde später handelte er.
Der Mann, der nicht Seymour Devlin war, hielt nämlich eine Pistole auf sie gerichtet.
Und das konnte nur eines bedeuten: Die Bankräuber aus Shilford hatten sich hier im Haus verschanzt.
Aus dem Stand heraus schnellte sich Raven vorwärts. Sein Atem explodierte aus seinen Lungen, während er sprang - in einem Schrei, der nur aus einem Wort bestand.
»Lauf!«
Er schrie es mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden. Die Bankräuber hatten drei Menschen umgebracht, einen Bankkunden und zwei Polizisten. Er wollte nicht, das Janice gleiches widerfuhr. Er wollte auch nicht selbst erschossen werden. Aber er sprang trotzdem, weil es nicht die geringste Chance gab, dass sie beide heil davonkamen. Er dankte Gott, dass Janice nicht zwischen ihm und der Tür gestanden hatte. Und aus was für einen dummen Anlass ...
Seine Handkante schlug den Pistolenlauf zur Seite. Ein Schuss löste sich aus der Waffe, verlor sich winselnd irgendwo im Nebel. Raven rammte dem Mann das Knie in den Magen.
Der Gangster
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