Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
dass man guten Gewissens hätte heiraten dürfen, und jetzt, da er langsam alt wurde, durfte er nicht damit hadern.
Unwillkürlich berührte er die Narbe von der alten Schussverletzung an seinem Hals. Wenn er so auf seine dienstliche Karriere zurückblickte, musste er sagen, dass es genügend brenzlige Situationen gegeben hatte, die seine damalige Entscheidung mehr als rechtfertigten. Eine Ehefrau hätte Dutzende von Malen Todesängste um ihn ausstehen müssen.
Mit einem leichten Nicken nahm er die Zigarette entgegen, die Willie ihm reichte. Pink hatte inzwischen die Streichhölzer an sich genommen und gab ihm Feuer. Der heiße, bittere Rauch der ersten zwei, drei Züge war nach der nebeligen Luft draußen eine Wohltat. Dann allerdings meldeten sich seine Bronchien mit protestierendem Pfeifen.
Die nächste Routineuntersuchung würde er nicht mehr schaffen, daran konnte es kaum einen Zweifel geben. Aber vielleicht war es gar nicht einmal so schlecht, ein Jahr früher als geplant in Pension zu gehen. Seine Gesundheit würde es ihm jedenfalls danken.
Aber wenn er an die langen, einsamen Stunden daheim in seiner kleinen Wohnung dachte ...
Pinks jungenhafte Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. »Wer war'n das?« Dabei vollführte er mit dem Kopf eine ruckartige Geste in Richtung des immer noch heruntergekurbelten Fensters. Aber Konstabler Price wusste auch so, wen er mit seiner Frage meinte.
»Ein Pärchen aus London«, sagte er träge zwischen zwei Zügen. Er lehnte sich in der harten Polsterung zurück, so gut es ihm der Zustand seines Rückgrats erlaubte, und schloss die Augen. »Das heißt, sie stammt eigentlich aus Shilford. Eine Land, falls euch das etwas sagt. Nein, das sagt euch natürlich nichts. Ihr junges Volk interessiert euch ja nicht einmal ...«
»Entschuldige, Pop«, unterbrach ihn Willie. »Ich glaube, da kommt wer.«
»Scheinwerfer?«, erkundigte sich der Konstabler. »Muss aber noch ein ganzes Stück entfernt sein. Ich höre noch kein Motorengeräusch.«
»Kein Auto«, erklärte Willie, und seine Stimme klang einigermaßen irritiert. »Jemand zu Fuß.«
»Zu Fuß?«
Mit einem Schlag war Konstabler Jim Price hellwach. Er schlug die Augen wieder auf, beugte sich vor und spähte an Pink vorbei in die nebelige Dämmerung. Wieso verirrte sich bei diesem Wetter und um diese Tageszeit ein Fußgänger auf die abgelegene Landstraße zwischen Shilford-on-Thayne und Aldermore?
Natürlich konnte es eine ganz simple Erklärung dafür geben. Eine Reifenpanne, zum Beispiel. Aber andererseits liefen hier in der Gegend vier schwer bewaffnete Mörder frei herum, und da verbot es sich von selbst, alle anderen, unangenehmeren Möglichkeiten auszuklammern.
Um diesen Raven oder seine Begleiterin handelte es sich jedenfalls nicht. Dafür kam der Fremde aus der falschen Richtung.
Und er sah auch nicht so aus wie Raven oder Janice Land. Er sah überhaupt nicht aus wie ein gewöhnlicher Mensch, was das anging.
Eher wie eine überlebensgroße Lumpenpuppe, die mit hölzernen, stockenden Bewegungen die Straße entlang gestakst kam.
Konstabler Price schluckte. So etwas hatte er in seinen beinahe fünfundvierzig Dienstjahren noch nie gesehen - außer bei schweren verbrannten Unfallopfern, bei denen Haut und Kleidung zu einer undefinierbaren, Fäden ziehenden Masse zusammengeschmolzen waren.
Vielleicht hatte der Fremde ja tatsächlich einen Unfall gehabt. Vielleicht war sein Wagen in Flammen aufgegangen, und er hatte sich mit letzter Kraft aus dem brennenden Wrack gerettet und torkelte nun im Schockzustand die Landstraße entlang - beinahe schon ein lebender Leichnam, bei dem es nur eine Frage der Zeit war, bis er zusammenbrach. Oder hatte das grässliche Aussehen des Unbekannten doch eine andere Ursache?
Der Konstabler verfluchte den Nebel, der es ihm unmöglich machte, Genaueres zu erkennen. Jetzt setzte auch noch schlagartig prasselnder Regen ein und entzog den Fremden vollends seinen Blicken, obwohl er nur wenige Meter vor den Fenstern des Streifenwagens vorbeistakste, eine lebende Vogelscheuche, die sich blind, aber unaufhaltsam in Richtung auf die Straßensperre zu bewegte.
»Ich geh mal raus und schau mir das näher an«, stieß der alte Polizist zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Vielleicht kann ich ja Erste Hilfe leisten.«
Der Gedanke, sich dieser entsetzlichen Gestalt zu nähern, sie vielleicht sogar anzufassen, veranlasste seinen Magen, sich zusammenzukrampfen. Am liebsten wäre er
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