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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sitzen geblieben und hätte die Augen wieder geschlossen, um damit gleichsam die Erinnerung an den grässlichen Anblick aus seinem Schädel auszusperren, aber am Ende siegte sein Pflichtgefühl. Er konnte nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen. Dafür war er schließlich Polizist.
    »Soll ich mitkommen?«, erkundigte sich Pink halbherzig. Sein Gesicht war käsig weiß, und seine Finger spielten nervös mit dem Griffstutzen der Maschinenpistole, die quer über seinen Knien lag. Nur gut, dass die MPi gesichert war, dachte Konstabler Price. Er fragte sich, wie Pink wohl reagieren mochte, wenn er zum ersten Mal allein einer solchen Situation gegenüberstand.
    Er schwang sich aus dem Wagen, murmelte ein schnelles »Nicht nötig« und lief los, in die Wand aus Nebel und Wasser hinein, die den Streifenwagen von allen Seiten umschloss. Im Nu war seine Uniform durchgeweicht; in seinen Schuhen quietschte die Nässe. Er erschauerte, schlug den Uniformkragen höher und hastete weiter.
    Vor ihm tauchte der Fremde aus den wallenden, treibenden Regen- und Nebelschleiern auf, direkt auf Höhe der Straßensperre. Er schien sie gar nicht zu bemerken, sondern rannte sie einfach um, beinahe so, als sei sie nicht vorhanden. Die hölzerne Sperre fiel polternd zu Boden, während der Fremde weiterstapfte. Der Zusammenprall hatte ihn nicht einmal aus dem Gleichgewicht gebracht.
    Mit ein paar langen, raumgreifenden Schritten war Konstabler Price bei ihm und um ihn herum. Instinktiv hielt er den Blick von dieser Horrorgestalt abgewandt, bis er es nicht mehr vermeiden konnte, sie anzuschauen. Er hob die Lampe, die er in der Rechten hielt, und leuchtete dem Fremden ins Gesicht.
    Und da begriff er, wie sehr er sich getäuscht hatte. Ein unterdrückter Schrei entrang sich seinen Lippen, ein Schrei, in dem alles Entsetzen und aller Unglaube dieser Welt lagen.
    Der Mann da vor ihm war nämlich nicht verbrannt, was schlimm genug gewesen wäre, aber immer noch erträglich.
    Er war verfault.
    Verfault und tot, seit fünfhundert Jahren.
    Der tote Körper schwang an den Händen aufgehängt im Wind. Raben ließen sich auf ihm nieder, pickten ihm die Augen aus, zerrten ihm das von der Peitsche aufgerissene Fleisch in Fetzen von den Knochen. Die niederbrennende Sonne versengte die Haut, röstete die noch übrig gebliebenen Fleischfetzen und bleichte die Knochen, die aus den entsetzlichen Wunden hervorstachen. Der tote Körper spürte von alldem nichts. Mit leeren Augenhöhlen, in denen die Maden wimmelten, starrte er in den Tag, die Nacht, den Tag. Wochen vergingen.
    Dann kamen zwei Männer aus dem Nachbardorf. Es hatte lange gedauert, bis sie sich gegen den dringenden Rat ihres Dorfältesten an die Stätte der Verwüstung wagten, in die Ruinen dessen, was die Hexenjäger von dem bemitleidenswerten Weiler übrig gelassen hatten. Sie durchstöberten die Mauerreste, wühlten mit Stöcken in den Scheiterhaufen und kamen am Ende zum Dorfplatz mit der großen Eiche. Und da baumelte immer noch der tote Körper.
    Die Sonne hatte ihn ganz schwarz gebrannt und ausgedörrt, und er sah kaum noch wie ein menschliches Wesen aus. Die beiden jungen Männer blieben erschrocken stehen und bekreuzigten sich. Wenn ihnen ihre Neugierde und Abenteuerlust nicht ohnehin schon längst vergangen gewesen wäre, so hätten sie sie spätestens bei diesem schauerlichen Anblick verloren.
    Am liebsten wären sie auf der Stelle davongelaufen, aber sie waren gute Christenmenschen. Sie kratzten ein flaches Grab in den Boden, hüllten den Leichnam in ein altes Tuch und senkten ihn hinab. Dann häuften sie Erde über die Gebeine.
    Nun hielt sie nichts mehr hier. Ein schnell gebundenes Kreuz aus Eichenästen, ein flüchtiges Gebet, und fort waren sie, um niemals wiederzukehren. Zum Teufelsturm wagten sie sich gar nicht erst hinauf.
    Von diesem Tage an wurde das Hexendorf von allen gemieden. Wind, Sturm und Regen zerbröckelten die Scheiterhaufen, die Ruinen. Das Kreuz stürzte um, wurde davongeweht. Die Zeit tilgte die Spuren des Grauens, das über das Dorf gekommen war, und mit ihnen tilgte sie gleichzeitig die Spuren des Dorfes. Bald hatten die Menschen vergessen, dass es hier je ein Dorf gegeben hatte.
    Was blieb, war nur der Turm, wie für die Ewigkeit gebaut.
    Und noch etwas anderes überdauerte: der alte verfaulte Leichnam in der Grube. Von dem Moment an, da die beiden jungen Männer aus dem Nachbardorf in Erfüllung ihrer christlichen Pflicht das Zeichen des Kreuzes über dem

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