Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Erdhaufen aufgerichtet hatten, verweste er nicht weiter. Die Füchse gruben ihn nicht aus, und die Würmer krochen über ihn, ohne ihn anzurühren. Seine Gebeine zerfielen nicht zu Staub; die Erde nahm ihn nicht zurück. Fünfhundert Jahre vergingen.
Fünfhundert Jahre. Fünfundzwanzig Generationen in der Welt der Menschen, zu der auch jenes Etwas in der Grube einstmals gehört hatte.
Fünfhundert Jahre wie ein Tag ...
Dann war der rechte Augenblick gekommen.
Verklumpter Boden direkt neben einer Landstraße, dem man nicht ansah, dass sich dort ein Grab befand, brach auf. Scharrende Finger tasteten. Materie gewordener Schrecken setzte sich auf.
Erhob sich.
Wandelte.
Ging die Landstraße entlang.
Und nichts konnte ihn aufhalten, nicht einmal eine Straßensperre oder Polizisten.
Denn Amos Prynn war auf dem Weg zum Teufelsturm, Gerechtigkeit zu suchen - und seine geliebte Frau Marian.
Janice Land rannte um ihr Leben, und sie wusste es.
In dem Augenblick, als Raven »Lauf!« gerufen hatte, hatte auch sie an ihm vorbei das Blitzen des Revolverlaufs gesehen. Und genau wie Raven hatte sie auf der Stelle gewusst, was das bedeutete: Die Bankräuber aus Shilford verbargen sich in Hillcrest Manor, und aller Wahrscheinlichkeit nach hielten sie die Devlins als Geiseln.
Falls sie sie nicht schon längst kaltblütig ermordet hatten!
Der Gedanke ließ ihr eisige Schauer den Nacken herunterrinnen, während sie auf den Maserati zustürmte. Im Laufen tasteten ihre Finger unter das Regencape, nach ihrer Gürteltasche, in der sie die Wagenschlüssel aufbewahrte. Dabei verfluchte sie sich selbst, dass sie die Schlüssel nicht einfach stecken gelassen hatte. Wer hätte den Maserati denn in dieser Einöde schon stehlen sollen?
Ihre bebenden Fingerspitzen fanden den Verschluss, nestelten daran herum. Als sie ihn endlich offen hatte, war sie schon hinter dem Maserati, direkt an der Fahrertür. Sie riss den Schlüssel aus dem Täschchen und stach damit in blinder Panik nach dem Türschloss des Wagens. Sie hatte Glück. Der Schlüssel fand die Öffnung wie von selbst und glitt beim ersten Versuch hinein. Sie drehte ihn um, bis der Sicherungsknopf nach oben sprang, und zog ihn wieder ab. Dann zerrte sie die Tür auf.
Als sie sich ins Wageninnere werfen wollte, rutschte ihr der Schlüssel aus der Hand.
Mit einem wenig damenhaften Fluch ließ sich Janice ungeachtet der Nässe auf die Knie nieder. Ein leises Platschen hatte ihr verraten, dass der Schlüssel in eine Pfütze direkt unterhalb der Fahrertür gefallen war. Mit beiden Händen tastete sie in der Pfütze herum, um ihn zu finden. Wertvolle Sekunden verstrichen.
Aber dann war es gerade dieses Missgeschick, das ihr das Leben rettete!
Eine Maschinenpistole begann zu hämmern. Sicherheitsglas splitterte, überschüttete Janice mit einem Schauer stumpfkantiger Bröckchen. Dort, wo sich normalerweise jetzt ihr Körper befunden hätte, biss sich ein Schwarm heißer, tödlicher Hornissen in die Polsterung des Maserati.
Instinktiv warf sich Janice bäuchlings in die Pfütze. Das Wasser sickerte sofort durch den unzulänglichen Schutz der Regenpelerine und durchnässte ihre Kleider bis auf die Haut, aber das war ihr in diesem Augenblick herzlich egal. Sie wollte nichts als eine halbwegs sichere Deckung. Die Anstrengung, vor Angst nicht laut loszuschreien, machte sie schwindelig.
Das Ratatatata der Maschinenpistole verstummte abrupt mit einem merkwürdig knirschenden Geräusch. Eine Ladehemmung. Eine Ladehemmung!
Zwei solcher glücklichen Fügungen binnen weniger Sekunden war mehr, als Fortuna normalerweise gestattete. Janice konnte kaum begreifen, dass das Geschick ihr doch noch eine Chance zum Entkommen gab. Aber als sie es begriff, handelte sie schnell und sicher.
Wo war bloß der verdammte Schlüssel? Ah, da. Ihre Finger schlossen sich darum. Und jetzt nichts wie hinein in den Wagen. Die Ladehemmung konnte jeden Moment behoben sein.
Sie rammte den Schlüssel in die Zündung. Legte den Gang ein, obwohl die nasse Sohle ihrer Stiefelette am Kupplungspedal abrutschte.
Mit einem melodiösen Schnurren, das der Nässe auf seinen Zündkontakten Hohn sprach, erwachte der Motor des Maserati zu kraftvollem Leben. Eine Zehntelsekunde später machte der Sportwagen einen mächtigen Satz nach vorne, direkt auf die Hauswand von Hillcrest Manor zu. Die Erschütterung des Anfahrens ließ die letzten Überreste der zerschossenen Frontscheibe nach innen bröckeln.
Janice betätigte die Bremse.
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