Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Mit einer fließenden Bewegung langte sie nach rechts hinüber, öffnete die Sicherheitsverriegelung der Beifahrertür. Zugleich heulte die Mehrtonhupe auf, die Raven verbotenerweise hatte installieren lassen.
Janice' Aktion war perfekt geplant und durchgeführt. Alles griff bruchlos ineinander.
Bis auf eine winzige Kleinigkeit.
Raven kam nicht aus dem Portal gestürmt.
Und das konnte nur eins bedeuten: Sie hatten ihn erwischt.
Oder brauchte er einfach nur Zeit, um sich von seinem Gegner zu lösen?
Janice wusste es nicht. Sie konnte nur warten, hoffen, beten - und wieder und wieder die Hupe betätigen. Die komplizierte Mehrtonfolge erinnerte sie unwillkürlich an das trostlose Heulen eines Tieres, dessen Gefährte von einem Jäger erschossen worden war. Sie musste mit aller Gewalt den Impuls unterdrücken, auszusteigen und ins Haus zurückzulaufen. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, und Tränen strömten ihr aus den Augen. Warum waren sie bloß so leichtsinnig gewesen, keine Waffen mitzunehmen? »Das ist doch ein Privatbesuch!«, hatte sie Raven noch gesagt, als er seine Pistole einstecken wollte. Sie hätte sich ohrfeigen können.
Ein letztes Hupsignal. Mindestens fünf Sekunden waren verstrichen, seit sie den Wagen zum Stehen gebracht hatte. Sie konnte nicht länger warten.
Ihr Fuß tastete nach der Kupplung, als sie eine Bewegung in der Schwärze des Portals bemerkte. Ihr Herz tat einen Sprung, als sie sah, wie ein Mann unter der Pforte hervortrat und einen Schritt auf den Wagen zu machte. Dann überfiel sie lähmendes Entsetzen.
Der Mann war nicht Raven, sondern ein kleiner, drahtiger Bursche mit Sommersprossen und rotem Haar, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Und er hielt eine Pistole in der Hand.
Sie reagierte mit der Geschwindigkeit langjährigen Trainings. Der Maserati schoss nach vorn, und seine Schnauze biss nach dem kleinen Mann. Der warf sich nach hinten, mit einem Satz, der einem Tiger alle Ehre gemacht hätte, und verschwand wieder in der Sicherheit der Halle. Zum Schießen kam er nicht.
Die wenigen Sekundenbruchteile, die Janice auf diese Weise herauszuschinden vermochte, genügten ihr vollauf. Sie riss das Steuer herum, trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste los, so dicht an der Hauswand entlang, dass sie meinte, das Knirschen von Metall gegen Verputz zu hören. Gleich darauf hatte sie den Maserati um die nächste Hausecke gelenkt.
Sie stöhnte auf. Ein niedrigeres Nebengebäude, das sie bei ihrer Ankunft nicht bemerkt hatte, versperrte ihr den Weg. Es musste sich um die Garage handeln, denn nirgendwo sonst war eine Spur vom Wagen der Devlins und dem Bentley der Gangster zu sehen gewesen. Und direkt links davon stieg steil die Hügelflanke an, zum Kamm empor. Ein Durchkommen gab es hier mit dem Maserati nicht. Sie bremste.
Was sollte sie machen? Wenden? Zurückfahren?
Nein, das war zu riskant. An dem kleinen Mann mit der Pistole kam sie ja vielleicht so gerade noch vorbei, aber wenn der unsichtbare Schütze von vorhin die Ladehemmung seiner MPi beseitigt hatte ...
Die Gedanken wirbelten nur so durch Janice' Kopf. Ihr blieb nur eine Chance - und die war nicht mal schlecht.
Sie musste aussteigen, an der Garage vorbeilaufen und im Wald verschwinden. Vielleicht gelang es ihr dadurch, die Gangster abzuschütteln. Dann konnte sie sich einen Weg hangabwärts bahnen und sich in sicherer Entfernung von der Straße bis zum Kontrollpunkt vorarbeiten, wo sie Konstabler Price und seine Männer wusste. Mein Gott, dachte sie ungläubig, es ist wirklich erst gerade eine Viertelstunde her, dass uns der Konstabler durch die Sperre weitergewinkt hat!
Und was war in dieser Zeit nicht alles passiert? Sie schluckte. Nein, sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Sie brauchte ihre ganze Kraft für die riskante Flucht. Das Traurigsein kam später - wenn sie das hier überlebte.
Aber sie konnte nicht verhindern, dass die Tränen ihr in einem ununterbrochenen Strom aus den Augen rannen. Halb blind schlug sie die Tür des Maserati zu und lief durch die schmale Lücke zwischen Garagenbau und Hügelflanke. Nur wenige Schritte hinter dem Nebengebäude begann der Wald, eine düstere, schweigende Mauer aus skelettierten Bäumen. Er flößte ihr Angst ein, aber sie stürzte hinein, da er auf jeden Fall weniger bedrohlich schien als ihr Verfolger.
Denn verfolgt wurde sie!
Sie hatte das Trappeln von Füßen auf dem Asphalt des Hofs gehört ...
»... und in den Augenhöhlen krabbelten
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