Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
von den Geistern aller, die er ermordete.«
»Und sein Bruder?«, erkundigte sich Raven sarkastisch. »Hat er auch sterben müssen, weil das Blut Nehemiah Oldhams in seinen Adern floss, obwohl er ja kein Erstgeborener war?« Er hatte einen metallisch sauren Geschmack im Mund. Die ›Gerechtigkeit‹, die Ahasver hier vertrat, gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie war alttestamentarisch. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und das bis ins vierundzwanzigste Glied.
Aber Ahasver war augenscheinlich viel zu mächtig, als dass man sich gegen seinen einsamen, unergründlichen Ratschluss hätte zur Wehr setzen können. Und darum blieb Raven nichts anderes übrig, als sich in das zu fügen, das der unheimliche Alte ihnen zumaß - für ein Verbrechen, das nicht sie, sondern der Hexenjäger Nehemiah Oldham vor fünfhundert Jahren begangen hatte.
»Er ist noch nicht tot«, sagte der Ewige Wanderer. »Aber er wird bald sterben, wenn ihm niemand hilft, und auch er hätte es hundertfach verdient. Doch da er nicht unter dem Fluch steht, will ich ihm eine Chance geben.«
Er schritt an dem winselnden Jazz vorbei und beugte sich steif über die Gestalt auf der Couch.
»So höre denn, Junge«, sprach er mit klarer Stimme. »Das Leben oder den Tod - ich lasse dich selbst entscheiden. Was also wählst du?«
»Das - Leben ...«, wisperte Lefty durch rosigen Schaum auf den Lippen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch sprechen konnte.
Der Alte nickte bedächtig. »Wenn du das Leben wählst, musst du mir dienen, so lange, bis ich dich wieder freigebe. Bist du dazu bereit?«
»Ja ...«, wisperte Lefty.
»Dann stehe auf und lebe«, sagte der Alte.
Raven stockte der Atem, als sich der junge Mann gleich darauf von seinem Lager erhob und vor Ahasver auf die Knie fiel, um ihm die Hand zu küssen. Sein Körper war völlig unversehrt. Ahasvers Magie hatte die Spuren der Maschinengewehrsalve vollständig getilgt.
»Steh auf!«, befahl Ahasver Lefty. »Du wirst fortan mein Auge sein. Und dir«, er wandte sich an seinen bisherigen Begleiter, »schenke ich nun die Freiheit - den Tod, um den du mich so oft gebeten hast.«
Tränen traten in die braunen Augen des Jungen. »Ich danke Euch, Meister«, flüsterte er bewegt. »Und ich wünsche Euch Glück auf Eurem Weg. Mögt Ihr Eurem eigenen Fluch eines Tages auch entrinnen.«
Und mit diesen Worten starb er. Sein Körper fiel von einem Augenblick zum anderen in sich zusammen, wurde zu einem verdorrten, runzeligen Ding, das womöglich noch entsetzlicher anzuschauen war als die beiden Untoten, die immer noch schweigend mitten im Raum standen. Es dauerte jedoch nur wenige Sekunden, dann war auch dieses Schreckensding verschwunden - zerfallen zu Staub, den ein Windstoß aus dem Nichts erfasste und davonwirbelte.
»Und nun zu dir, Anne Devlin«, fuhr der Ewige Wanderer fort. »Du hast das Kind in deinem Leib verleugnet und damit gezeigt, dass wahrlich das korrupte Blut Nehemiah Oldhams in deinen Adern fließt. So sei du nun dazu verdammt, deinen ungeborenen Sohn einer anderen zu überlassen, die seiner würdiger ist.« In einer fließenden Bewegung hob er den Knotenstock und berührte damit zuerst Anne Devlins Bauch und dann den der unsagbaren Gestalt, die einmal Marian Prynn gewesen war.
Raven glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Mit einem Mal war Anne Devlin nicht mehr schwanger. Ihr vorgewölbter Leib war wieder völlig glatt, und ihr weites Hauskleid hing wie ein Sack an ihr herunter. Marian Prynn aber ...
»Nehemiah Oldham nahm euch den Sohn, meine Kinder, doch seine Erbin gab ihn euch zurück«, intonierte Ahasver. »Und so ist der Gerechtigkeit Genüge getan.« Er breitete segnend die Hände über die Köpfe des grässlich anzuschauenden Paares, dessen Liebe selbst Verdammnis und Tod überwunden hatte. Dann fuhr er fort: »So gehet also heim, ihr und die anderen. Das Dorf erwartet euch.«
Amos und Marian Prynn verneigten sich leicht vor dem alten Mann, bevor sie sich abwandten und hinausgingen, gefolgt von der Spinnenhand Marians.
Raven vernahm das Schlurfen vieler Hundert Füße, die langsam die Auffahrt des Herrenhauses hinuntergingen. Und er glaubte auch zu wissen, wohin ihr Weg sie führte.
Vielleicht lag doch in dem, was Ahasver tat, nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Gnade ...
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Ewige Wanderer ihn bisher ausgespart hatte, und eisige Angst umklammerte sein Herz.
»Und was - was werdet Ihr mit mir tun?«, erkundigte er sich zaghaft. Seine Lippen
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