Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
dass eine Veränderung mit dem Land vorgegangen war, irgendetwas Unsichtbares und Unbegreifliches. Es war, als läge eine dunkle, lastende Faust über dem steinernen Rund, als hätte der Fluch dieses heidnische Heiligtum noch einmal über den Abgrund der Jahrtausende hinweggegriffen, um seine grausame Herrschaft auszubreiten und die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.
»Unsinn«, sagte sie, zornig auf sich selbst. Sie war hundertmal hier oben gewesen, und es war nicht das erste Mal, dass sie bei Nacht herkam. Noch nie hatte sie Angst verspürt. Im Gegenteil - schon am Tage war Stonehenge schön, geheimnisvoll und auf eine schwer zu beschreibende Weise faszinierend. Stonehenge war nicht einfach eine Ruine, ein Haufen Steine, der die Jahrtausende überstanden hatte, sondern mehr, viel mehr. Vielleicht der Ausdruck einer Kultur, die untergegangen war und nur dieses steinerne Mahnmal der Vergänglichkeit zurückgelassen hatte.
Für Betty war Stonehenge ein Kunstwerk, ein Kunstwerk, das sie zwar nicht verstehen konnte, das aber vielleicht gerade deshalb noch anziehender für sie wurde. Und erst bei Nacht, im sanften, Farben und Formen auslöschenden Licht des Mondes und der Sterne, vermochte Stonehenge seine wahre Schönheit zu offenbaren. Tagsüber war es ein Steinkreis, Monument der Größe und Vergänglichkeit zugleich, aber bei Nacht ordneten sich die Schatten neu, formierten sich die mächtigen Blöcke zu einem stummen Ballett, dessen Schattentänzer, der Wanderung des Mondes folgend, geheimnisvolle Muster und Linien in den Boden zeichneten, Bilder, Worte und Geschichten für den erzählten, der sie zu lesen verstand.
So war es bis jetzt gewesen.
Heute, das spürte sie, war es anders. Irgendetwas hatte sich verändert, war aus dem Schatten hervorgekrochen und lauerte nun, unsichtbar, geduldig.
»Was ist?«, fragte ihr Begleiter. »Haben Sie Angst?«
Betty fuhr zusammen, öffnete die Augen und lächelte hastig, um ihre Nervosität zu verbergen. Ihr Begleiter - ein dunkelhaariger, sehr schlanker und sehr hoch gewachsener Mann mit asketischen Gesichtszügen und dunklen, leicht schräg stehenden Augen, die nicht zu seinem griechischen Profil passten - lächelte spöttisch. Der Mann war ihr vom ersten Augenblick an nicht sonderlich sympathisch gewesen. Er hielt sich seit fast einer Woche in Karghill, der kleinen, kaum fünfhundert Seelen zählenden Ortschaft unweit von Stonehenge auf, und Betty war nicht die Erste, die diese unbegründete Abneigung gegen ihn empfand.
Deshalb hatte sie auch gezögert, als er sie am vergangenen Abend plötzlich gebeten hatte, sie nach Stonehenge zu begleiten. Aber Barry Lamb - Betty fand den Namen irgendwie äußerst unpassend, denn Lamb hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Lamm, eher schon mit einem hageren, ausgehungerten Wolf - Barry Lamb also zahlte gut, sehr gut sogar, und da lohnte es sich schon, mitten in der Nacht hierher zu kommen und ein paar Minuten zu frieren. Außerdem war das seltsame Geschäft vor zahlreichen Zeugen in der kleinen Kneipe des Ortes abgeschlossen worden, sodass wohl kaum die Gefahr bestand, dass Lamb sie vergewaltigte oder gar ermordete.
»Ich habe keine Angst«, sagte sie schließlich, als das Schweigen unangenehm zu werden begann. »Mir ist nur kalt. Außerdem«, fügte sie mit einem nervösen Lächeln hinzu, »haben Sie sich keine günstige Nacht ausgesucht, um Stonehenge zu besichtigen.«
»Habe ich das nicht?«, fragte Barry Lamb. Etwas am Klang seiner Stimme störte Betty. Es klang, als hätte sie ihm gerade erzählt, dass die Erde rund sei und er eigentlich in den Himmel stürzen müsse, weil er ja mit den Füßen nach oben an der Erdkugel klebte.
»Sehen Sie die beiden großen Säulen dort drüben, ganz am anderen Ende der Anlage?«, erkundigte sie sich, ohne auf Lambs spöttischen Ton einzugehen. Lamb nickte. »Wenn Sie drei Tage gewartet hätten, hätten Sie genau zwischen ihnen den Großen Bären sehen können«, erklärte sie. »Und über dem Pfeiler dorthinten links steht der Nordstern.«
Lamb schwieg eine Weile, schüttelte dann den Kopf und trat mit ein paar raschen Schritten in den äußeren, niedrigen Steinkreis. Stonehenge bestand aus vier ineinander liegenden, konzentrischen Kreisen, von denen allerdings nur noch die beiden inneren teilweise erhalten waren. Die beiden größeren, äußeren Kreise waren entweder zerstört oder nie zu Ende gebaut worden, sodass nur noch eine Reihe flacher, regelmäßiger Gruben von den
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