Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
alias Barry Lamb zugezogen hatte, volle drei Wochen nicht arbeiten können, und außerdem war ein Großteil des Honorars dafür draufgegangen, ihre Schulden bei allen möglichen Kreditinstituten zu tilgen.
Nein, trotz Jeff Targets Großzügigkeit war ihre Lage nach wie vor bescheiden. Und darum ...
»Schicken Sie sie rauf, Clive«, sagte Janice mit müder Stimme. »Aber warten Sie noch einen Augenblick - ich muss mir erst etwas überziehen.«
»Jawohl, Miss Land. Und - ich drücke Ihnen die Daumen.« Ein Klicken, und die Leitung war tot. Janice' halb laut gemurmeltes »Danke« verklang ungehört.
Für ein paar Sekunden blieb Janice reglos stehen, als müsse sie erst Kraft für weitere Aktionen sammeln, dann legte sie den Hörer auf den Apparat zurück und zog sich mit einem gemurmelten Fluch das Nachthemd über den Kopf. Ein leichtes Frösteln überlief ihren Körper, und sie beeilte sich, in die Jeans und den Pullover zu schlüpfen. Nach kurzem Suchen fand sie auch die Hausschuhe und schob die Füße hinein.
Dann torkelte sie immer noch einigermaßen benommen hinüber zur Küche, wo sie in einer Warmhaltekanne einen abgestandenen Rest Kaffee fand, den sie in eine offensichtlich schon früher benutzte Tasse goss und gierig hinunterschüttete. Danach fühlte sie sich wenigstens ein bisschen besser.
Janice hatte sich am Abend, direkt vor dem Schlafengehen, noch ein Omelett gemacht, aber natürlich weder den Tisch abgeräumt noch das Geschirr abgewaschen. Sie war keine gute Hausfrau, und sie wusste es, aber trotzdem gefiel es ihr nicht besonders, um diese nachtschlafende Zeit durch einen solch abscheulichen Anblick daran erinnert zu werden. Sie war froh, die Küchentür hinter sich zumachen zu können, als sie sich auf den Weg in Richtung Büro machte.
Früher, dachte sie ungehalten, wäre ich um diese Zeit nicht so aus der Welt gewesen. Aber seitdem ich den Aushilfsjob angenommen habe und seit zwei Wochen jeden Morgen um sechs Uhr putzen gehe, um uns wenigstens halbwegs über Wasser zu halten ...
Während sie das Bürolicht anschaltete und die Eingangstür der Detektei öffnete, damit sie den heraufkommenden Fahrstuhl hören konnte, fragte sie sich wohl zum tausendsten Mal, warum sie das alles eigentlich tat. Was war an diesem heruntergekommenen, erfolglosen Privatdetektiv namens Raven bloß dran, dass sie sich für ihn aufopferte und mit ihm durch dick und dünn ging, sogar, wenn ihre Gegenspieler keine gewöhnlichen Kriminellen, sondern dämonische Schattenwesen aus dem Jenseits waren?
In der Zeit, in der sie mit ihm lebte, hatte sie mindestens ein Dutzend attraktiver junger Männer kennengelernt, die über ein angenehmes Äußeres hinaus auch über hinreichend dicke Brieftaschen verfügten, um einer Frau wie Janice ein sorgenfreies, ja luxuriöses Leben zu bieten.
Gerade als draußen das Summen des Lifts anzeigte, dass Clive die nächtliche Besucherin jetzt nach oben schickte, klingelte erneut das Telefon.
Mit ein paar Schritten war Janice bei dem Zweitapparat auf dem Büroschreibtisch und legte das Gespräch mit dem dafür vorgesehenen Umschalter von der Wohnung hierher um. Dabei stieß sie einen ungehaltenen kleinen Seufzer aus. An manchen Abenden kam es wirklich knüppeldick. Wer mochte das jetzt bloß schon wieder sein?
»Janice Land.«
»Hallo.«
Die vertraute Stimme ließ Janice' Herz einen angenehmen kleinen Hüpfer tun. »Ach, du bist's, Raven«, meinte sie. »Ich hatte dich schon vermisst. Wo steckst du denn?«
»Im Moment bin ich unten bei Li Feng in Soho und warte auf mein Chop Suey«, berichtete Raven. Jetzt, da er erwähnte, dass er sich in einem Restaurant befand, fielen Janice auch die entsprechenden Hintergrundgeräusche auf - das Murmeln von Stimmen, das Klappern von Tellern und Schüsseln. »Aber um Mitternacht wechsele ich das Lokal«, fuhr Raven fort. »Weißt du, ich war lange nicht mehr in der Disco. Es gibt da eine neue - The Cube. Sehr teuer und sehr luxuriös. Muss ich unbedingt ausprobieren.«
Janice versuchte sich Raven, der bei aller körperlicher Beweglichkeit als Tänzer eher ein wandelndes Fiasko war, in einer Discothek vorzustellen, aber irgendwie wollte ihr das partout nicht gelingen. Auf die nächste Frage wäre daher auch ein minderer Geist als Sherlock Holmes ohne die geringste Mühe gekommen. »Dienstlich?«
Ravens Lachen vom anderen Ende der Leitung hatte etwas erfrischend Jungenhaftes an sich. »Natürlich dienstlich. Hillary Gifford will mich sprechen. Sie
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