Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
sind zwar verlobt, aber nicht verheiratet, und Sir Anthony legt nun einmal viel Wert auf absolute Korrektheit, auch wenn das in der heutigen Zeit altmodisch wirkt. Er konnte gar nicht anders, als eine salomonische Entscheidung zu treffen.«
»Salomonisch?«, wiederholte Raven, noch immer aufgebracht. »Kleinkariert und spießig trifft die Sache wohl eher.«
Janice seufzte. »Du verstehst mal wieder gar nichts. Was meinst du, warum er uns zwei nebeneinander liegende Zimmer mit einer Zwischentür gegeben hat? So bleibt die äußere Form gewahrt und alles Weitere allein uns überlassen.«
»Hm, so habe ich die Sache noch nicht betrachtet«, gestand Raven grinsend. »Allmählich fangen die alten Sitten an, mir zu gefallen.«
Er umarmte Janice, drückte sie an sich und ließ sich mit ihr aufs Bett fallen, doch sie wehrte ihn ab.
»Jetzt nicht, du Lüstling«, tadelte sie ihn. »Du hast doch gehört, es gibt gleich Essen, und du willst die werte Mrs. Baltimore doch nicht schon direkt nach unserer Ankunft kränken, oder?«
»Dann wenigstens später?«, erkundigte sich Raven hoffnungsvoll.
Langsam breitete sich die Abenddämmerung über die chinesische Hauptstadt Peking. Die Schatten wurden länger und tiefer.
Das galt ganz besonders für einen speziellen Schatten kaum eine Meile südöstlich der Metropole. Zuerst war es nur ein winziger Fleck, aber von einer so intensiven Finsternis, das sie mehr als nur die Abwesenheit von Licht zu sein schien.
Der Fleck breitete sich aus, wurde zu einer Kugel, fast wie ein sich immer mehr vergrößerndes Loch in der Wirklichkeit. Es erreichte die Größe eines Fußballs, eines Autos, eines Hauses und wuchs immer noch weiter.
Und inmitten dieser Schwärze begann etwas zu wabern und zu wogen, nahm immer mehr feste Form an, bis das schwarze Loch schließlich groß genug war und die Albtraumkreatur aus der Finsternis trat.
Mit Schritten, die den Boden zum Erbeben brachten, näherte sich Godzilla Peking ...
»Card?«, murmelte Raven entgeistert und starrte den kleinen, ungeheuer dicken Mann mit der Glatze an, der bereits zusammen mit Hillary und Sir Anthony am Tisch saß, als Janice und er den Speisesaal betraten. »Inspektor Card?«
»Richtig, mein Junge«, krächzte der Mann.
Langsam, als bedeute jeder Schritt eine ungeheure Anstrengung, trat Raven näher. Um ein Haar hätte er den ehemaligen Inspektor gar nicht erkannt. Als sie sich vor mehr als zwanzig Jahren erstmals begegnet waren, war Card in die unheimlichen Geschehnisse um die Schattenreiter verwickelt worden und hatte erkennen müssen, dass es Dämonen wirklich gab. Fortan hatte er Raven im Rahmen seiner Möglichkeiten als Beamter bei Scotland Yard unterstützt und ihm mehr als einmal in seinem Kampf gegen die Mächte der Finsternis aktiv zur Seite gestanden.
Damals war er auf die Sechzig zugegangen und wenig später nach einer Verletzung vorzeitig in den Ruhestand getreten, wodurch schließlich auch Ravens Kontakt zu ihm abgerissen war. Mittlerweile musste er fast Achtzig sein.
Angesichts seines schon damals immensen Übergewichts grenzte es eigentlich an ein Wunder, dass er überhaupt so alt geworden war, aber die Zeit hatte es nicht sonderlich gut mit ihm gemeint. Er hatte sich in einen tatterigen Greis verwandelt. Sein Gesicht war mit tiefen Falten und Runzeln übersät, seine Wange eingesunken und sein kahler Kopf voller Leberflecken. Seine Schultern waren nach vorne gebeugt, und Raven sah, dass seine Hände zitterten. An seinem Stuhl lehnte ein Gehstock.
»Ich dachte mir, ich sollte Mr. Card auch einladen, um die Wiedersehensfeier komplett zu machen, und er hat sofort zugesagt«, erklärte Sir Anthony vergnügt. »Und Ihrem verdutzten Gesicht zufolge ist mir die Überraschung wohl auch voll gelungen.«
»Das kann man wohl sagen«, murmelte Raven. Er ergriff die Hand, die Card ihm entgegenstreckte, und drückte sie vorsichtig. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
»Ganz meinerseits, mein Junge. Und nun schauen Sie nicht so entgeistert. Wir sind alle älter geworden. Sie haben auch nicht gerade eine Verjüngungskur hinter sich. Ich bin schon mächtig gespannt zu erfahren, wie es Ihnen in den letzten Jahren ergangen ist.«
Auch Janice begrüßte den ehemaligen Inspektor. Formvollendet führte er ihre Hand an seinen Mund und gab ihr einen Handkuss.
»Falls das überhaupt möglich ist, sind Sie noch bezaubernder als früher geworden, meine Liebe«, sagte er.
Janice errötete leicht und bedankte sich für das
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