Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
höchstwahrscheinlich alle mit dem Leben bezahlen müssen.
Nein, die organisierten Diebstähle gingen auf das Konto der anderen Fraktion - auf das Konto der Fraktion, die den Killer und seinen Kumpan nach Paris geschickt hatten. Dass bei dieser Gelegenheit neben dem Pariser Schädel auch gleich der Meisterschädel mit ins Spiel kam, war reiner Zufall gewesen.
Aber Raven überließ sich nicht lange diesen Gedankengängen. Er wirbelte schon wieder vorwärts, drang auf den Killer ein. Er wusste, wie zäh solche Profis bisweilen waren. In einer fließenden Bewegung ließ er den Arm steif vorschnellen, mit ausgestreckten Fingerspitzen, um seinen Gegner endgültig zu erledigen.
Und stieß ins Leere.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich der Killer in Luft aufgelöst.
Raven schnellte herum.
Und sah gerade noch, wie sich die beiden Kristallschädel bernsteingelb flirrend in Nichts auflösten - der Pariser Schädel in der Vitrine und der Meisterschädel in den verkrampften Händen Nick Jeromes.
Im nächsten Augenblick lief eine Welle der Irrealität durch den Raum, das Kielwasser eines unsichtbaren Schwimmers, der durch unsichtbare Fluten pflügt. Sie schwappte an Melissa vorbei, die stöhnend auf dem Boden kniete, und verzerrte die Gestalt des Mädchens zu einer albtraumhaften Karikatur. Melissa merkte es nicht einmal.
Dann war die Welle auch schon zur Tür hinaus und irgendwo im nächsten Saal verebbt - eine magische Raum-Zeit-Verzerrung, in deren Schutz zwei Kristallschädel und zwei Menschen aus dem Centre flohen.
Hinterher, hämmerte es in Ravens Gehirn. Bloß hinterher. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was er dann machen sollte, wenn er die magische Verzerrungszone wirklich einholte - er musste es versuchen. Er musste es versuchen.
Das war er sich und all den Toten schuldig.
Fast zögernd tat er einen ersten Schritt zum Ausgang hin. In seinem tiefsten Innern wusste er nur zu genau, wie sinnlos die Verfolgung war. Und doch ... und doch ...
Die Entscheidung wurde ihm ganz plötzlich abgenommen, denn eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Abrupt blieb Raven stehen. Ein feiner Schweißfilm begann auf seiner Stirn zu glitzern. Er wusste ganz sicher, dass sich in diesem Raum außer ihm nur noch ein lebender Mensch aufhielt - Melissa. Und die hatte er, ebenso wie beide Ausgänge, im Auge.
Hinter ihm befand sich niemand - außer den beiden Toten.
Langsam, ganz langsam drehte er sich um.
Die Hand gehörte Nick Jerome.
Ravens Zähne schlugen hart aufeinander, sein Kinn schob sich verkrampft nach vorn, und seine Lippen teilten sich, bis seine Züge eine archaische Maske bildeten.
Übelkeit stieg wütend in ihm hoch.
Das Ding, das da vor Raven stand, war tot - und lebte trotzdem noch, auf unerklärliche Weise.
Es öffnete den Mund. Es sprach.
»Er hat mich verraten«, sagte die tote Stimme. Sie kam aus Fernen, die kälter waren als der Weltraum. »Ich war sein Werkzeug. Er hat mich benutzt und dann fortgeworfen, als er mich nicht mehr brauchte.«
Raven begriff sofort, dass Nick Jerome - Nick Jerome? - von dem Meisterschädel sprach. Was er hingegen nicht begriff, war, wie das Ding da vor ihm überhaupt sprechen konnte. Welche Instanz steuerte seine Stimmbänder, seine Zunge, seine Lippen?
»Rächt Jeff, rächt José;«, fuhr die tote Stimme völlig gefühllos fort. »Rächt alle anderen. Und bitte, rächt auch mich.«
Mit letzter Kraft zwang Raven seine Kiefer auseinander. Er wollte fragen, wie sie das bewerkstelligen sollten, wollte fragen, wohin die Kristallschädel und ihre Räuber verschwunden waren, aber er schaffte es nicht. Über seine Lippen kam nur ein unartikuliertes Stöhnen.
Das Ding schien trotzdem zu wissen, was Raven fragen wollte. Oder fuhr es vielleicht nur in einem gespenstischen Monolog fort? Hatte es überhaupt Möglichkeiten, die Außenwelt, die Welt der Lebenden, noch wahrzunehmen? War es noch Teil dieser Welt oder schon Teil des Reichs der Toten?
»Der kosmische Kreis«, sagte das Ding sehr leise. »Der kosmische Kreis - damit besiegt ihr die Schädel. Ihr müsst ...«
Die Stimme verwehte im Nichts.
Das Ding, das einmal Nick Jerome geheißen hatte, sackte in sich zusammen. Es fiel schwer gegen den wie betäubt dastehenden Raven und rutschte ganz langsam an ihm zu Boden. Dort blieb es liegen, in seltsam entspannter Haltung. Fast schien es Raven, als hätte Jerome trotz all des Grauens der letzten Wochen im Tod endlich Frieden gefunden.
Er hatte sein Bestes gegeben. Sicher,
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