Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
»Fahren Sie fort.«
Ein dünner Schweißfilm bildete sich in Ravens Nacken. Langsam näherten sie sich den Teilen der Geschichte, bei denen es schwierig wurde, die Handlungen der beteiligten Personen sinnvoll zu beschreiben, ohne die volle Wahrheit zu sagen. Das, was an diesem Morgen wirklich geschehen war, konnte er le Pierrot auf keinen Fall erzählen. Der Inspektor hätte ihn entweder für einen unverschämten Lügner gehalten oder für verrückt erklärt.
»Vermutlich«, begann Raven zögernd, wobei er sich jedes Wort sehr genau überlegte, »hat auch der Wärter nicht erkennen können, was Münzschläger tat. Deshalb ging er wohl auch zu ihm hinüber. In dem Augenblick, als er Münzschläger erreichte, drehte jedenfalls dieser Smith durch. Er zog eine Pistole - eine Beretta - und erschoss den Wärter.«
»Von hinten.«
»Von vorne.«
Le Pierrots Gesicht legte sich in ein großes Fragezeichen. Er sagte jedoch nichts, sondern ließ Raven einfach kommen.
»Beim Anblick der Pistole schrie Miss McMurray erschrocken auf«, fuhr der Privatdetektiv verbissen fort. »Daraufhin wirbelte der Wärter herum. Smith schoss erst, nachdem ihm der Wärter das Gesicht zuwandte. Die Kugel traf ihn in die Brust, knapp über seinem Namensschild.«
»Sie halten Smith und Münzschläger für Profis?«
Die Frage verwirrte Raven. »Ja.«
»Für einen Profi saß Smith die Knarre aber reichlich locker. Und dass er den Finger so schnell am Druckpunkt hatte, kommt mir auch ein bisschen merkwürdig vor.«
Raven biss sich auf die Zunge. Da also lief der Hase entlang! »Dafür kann ich Ihnen auch keine Erklärung geben.«
Das war die erste Lüge, um die Raven nicht herumkam. Vorher hatte er noch keine einzige wirkliche Unwahrheit erzählt. Er hatte die Abfolge der Ereignisse eigentlich nur etwas ediert - oder anders ausgedrückt: ungefähr die Hälfte ausgelassen. Aber wie hätte er einem Pariser Kriminalinspektor auch klar machen sollen, dass der Wärter nicht zu Münzschläger hinüber gegangen, sondern auf dem Weg dorthin um ein unsichtbares Hindernis herum geflossen war, wobei er sich zu einer wahren Horrorgestalt verformte, offensichtlich, ohne es selber zu bemerken? Und wie macht man einem Mann, der vermutlich nicht an die Existenz des Übersinnlichen glaubt, begreiflich, dass sich der Kristallschädel in der Vitrine in dem Moment, da der Wärter Münzschläger erreichte, in Nichts aufgelöst hatte, und dass das einer der Gründe dafür gewesen war, warum Smith so überzogen reagierte?
Nein, besser war es, er versuchte das erst gar nicht.
Obwohl sich seine widerstreitenden Gefühle deutlich auf Ravens Gesicht abzeichnen mussten, hakte le Pierrot zu seiner großen Überraschung diesmal nicht nach. Stattdessen erkundigte er sich: »Befand sich der Schädel zu diesem Zeitpunkt noch in der Vitrine?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nicht darauf geachtet, weil ich meine Aufmerksamkeit erst auf den sterbenden Wärter und dann auf Smith konzentrierte.«
Die zweite Lüge. Langsam bekam Raven das Gefühl, sich immer tiefer in einem Netz aus Falschaussagen und Halbwahrheiten zu verstricken. Bisher war es ihm zwar in den drei Verhördurchgängen gelungen, offensichtliche Widersprüche zu vermeiden, aber er wusste nicht, wie lange er das noch durchhalten konnte.
Anfangs hatte er noch gehofft, dass er gegebenenfalls die Sprachbarriere für peinliche Ungereimtheiten verantwortlich machen konnte, aber er hatte nur zu rasch herausfinden müssen, dass Inspektor le Pierrot ein ausgezeichnetes Englisch sprach. Seither hielt er seine Zunge sorgfältig im Zaum. Wahrscheinlich schlug er sich sogar recht wacker, wenn man die schwierigen Umstände bedachte.
Was ihm jedoch den Hals brechen konnte, war die Tatsache, dass er und Melissa getrennt verhört wurden. Raven hatte Melissa nicht mehr zu Gesicht bekommen, seitdem sie ins Polizeipräsidium gebracht worden waren, aber er zweifelte nicht daran, dass sie einige Räume weiter auf einem ähnlich harten Stuhl saß und von einem anderen Mitglied der Mordkommission verhört wurde - von einer Frau vermutlich. Hoffentlich sprach wenigstens die nicht so gut Englisch wie Monsieur le Pierrot - aber das war wohl leider reines Wunschdenken.
Sagten sie offen heraus, was sie über die Kristallschädel wussten, steckte man sie wahrscheinlich auf der Stelle in eine Irrenanstalt. Sagten sie es nicht, mussten sie zu komplizierten Lügengebilden Zuflucht nehmen, und dann würde man sie weiter und weiter
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