Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
abwehrend die Hände, als er sah, dass Raven zu einem Protest ansetzte. »Ja, ja, ich weiß schon, Monsieur Raven. Das ist äußerst unwahrscheinlich, aber unmöglich ist es nicht. Sie könnten für ein paar Sekunden - vielleicht sogar für eine halbe Minute - unbeobachtet hinausgegangen sein. So unbeobachtet, wie Nick Jerome alias Paul Rhodes - wir haben Papiere auf diesen Namen bei ihm gefunden - das Centre Georges Pompidou und den Raum mit dem Kristallschädel betreten hat. Oder auch so unbeobachtet, wie die von Ihnen der Tat bezichtigten Personen, Roscoe Smith und Harald Münzschläger, das Centre verlassen haben müssen. Finden Sie es nicht auch überaus merkwürdig, dass es dafür keine Zeugen gibt?«
Nicht im Geringsten, dachte Raven, während er auf der letzten Sandwichkruste herumkaute. Schließlich waren sie ja unsichtbar.
Laut sagte er: »Da Sie die beiden Namen gerade erwähnen - gibt es in dieser Hinsicht etwas Neues?«
Zu seiner Verblüffung nickte le Pierrot.
»Sie sind nicht aufzufinden, aber ihr Gepäck ist noch im Hotel«, berichtete er. »Einer meiner Assistenten, der die Untersuchung durchführte, hat ›Crazy Horse?‹ an den Rand seines Berichts gekritzelt, aber da kannte er den Bericht von Interpol noch nicht.« Er zog einen der Hefter aus dem Stapel, rollte ihn zusammen und klopfte damit zwei Mal kurz auf die Kante der Schreibtischplatte.
Unwillkürlich richteten sich Ravens Augen wie magisch angezogen auf den Hefter in le Pierrots Pranken. Der Inspektor hatte Schaufelhände wie ein Riesenmaulwurf. »Interpol?«
Le Pierrot nickte. »Das hier kam vor zehn Minuten durch den Ticker.« Er entrollte den Hefter wieder, strich ihn glatt und las dann doch nicht daraus vor. »Einen Mann namens Roscoe Smith gibt es in den Datenbanken von Interpol nicht. Harald Münzschläger allerdings wird dort sehr wohl geführt. Er gilt als Elektronikexperte - als Spezialist für das Überwinden elektronischer Sperren und das Ausschalten hoch komplizierter Alarmanlagen, was beim Diebstahl eines Ausstellungsobjekts aus einem Museum ja von einigem Nutzen wäre. Angeblich arbeitet er vorwiegend für das Syndikat.«
»Das Syndikat?«
»Das Syndikat. Mit anderen Worten. Ein wirklich dicker Fisch. Leider hat man Münzschläger seit mehr als zehn Jahren nichts mehr nachweisen können. Vorher arbeitete er meist auf eigene Rechnung, woran man sieht, dass das Syndikat seine Mitglieder sorgfältig schützt. Seit seiner damaligen Entlassung aus dem Gefängnis lebt Münzschläger in der Nähe von Düsseldorf. Er ist verheiratet und hat drei Kinder, acht, sechs und drei Jahre alt.« Le Pierrot blickte wie beiläufig auf seine Armbanduhr. »Um diese Zeit müssten eigentlich die Düsseldorfer Kollegen schon bei Frau Münzschläger auf der Matte stehen, wie man das in Deutschland ausdrückt. Ich rechne allerdings nicht vor morgen Mittag mit einem Bericht.«
»Und ...«, setzte Raven an, aber der Inspektor unterbrach ihn sogleich wieder.
»Warten Sie doch mal ab, Monsieur Raven. Das ist nämlich noch längst nicht alles. Nach vertraulichen und daher nicht vor Gericht verwertbaren Mitteilungen eines Informanten aus der Düsseldorfer Unterwelt, die von der deutschen Polizei an Interpol weitergegeben wurden, soll Münzschläger letztlich häufiger vom Syndikat mit einem amerikanischen Profikiller zusammengekoppelt worden sein - als Geleitschutz, sozusagen. Nach Angaben des Informanten nannte sich der Amerikaner in Düsseldorf William E. Harris. Eine Beschreibung liegt Interpol ebenfalls vor.«
Raven setzte sich kerzengerade in dem hölzernen Folterstuhl auf und vergaß für einen Augenblick beinahe, wie sehr sein Hinterteil schmerzte. »Und William E. Harris ...«
»... ist Roscoe Smith, richtig. Wir haben in seinem Hotelzimmer ein Feuerzeug mit dem Monogramm W. E. H. gefunden. Und die Beschreibung passt auch.«
Raven stieß mit einem Keuchen die Luft aus, die er während der letzten Eröffnung des Inspektors angehalten hatte. Das war weitaus mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Und vor allem - es entlastete Melissa und ihn!
»Lassen Sie jetzt die Flughäfen kontrollieren?«, erkundigte er sich in dem vergeblichen Versuch, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen.
Le Pierrot lächelte, wobei er für einen Moment fast wie ein kleiner Junge aussah, der einen besonders gelungenen Streich ausgeheckt hatte. »Diese Anordnung ist schon eine halbe Stunde nach der Tat hinausgegangen - zusammen mit Ihren detaillierten
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