Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
sich.
Raven erkannte eine Grobskizze des Tatorts. Glücklicherweise war er auf diese Frage vorbereitet gewesen, und darum kam seine Antwort auch prompter als bei den letzten Malen: »Das liegt am Störtebeker-Effekt.«
Befriedigt registrierte Raven, dass sich auf le Pierrots Gesicht deutliche Verblüffung abzeichnete. »Störtebeker-Effekt?«
»Ein deutscher Seeräuber. Als man ihn einfing und enthauptete, bat er darum, dass allen jenen seiner Leute das Leben geschenkt würde, an denen sein kopfloser Leichnam noch vorbeizulaufen vermochte. Die Überlieferung behauptete, er hätte ein ganz schönes Stück geschafft.«
Le Pierrot hob die Augenbrauen. »Verstehe. Sie meinen, Nick Jerome ...«
In diesem Augenblick öffnete sich mit einem gruftartigen Knarren die Tür des Vernehmungszimmers. Ein junger Kriminalassistent kam hereinbalanciert, ein Tablett mit Kaffee und Sandwiches auf den Händen und einen mittleren Stoß Schnellheftern unter dem Arm. Raven fragte sich, womit er wohl die Türklinke betätigt haben mochte. Ihm fielen mehrere Möglichkeiten ein, aber sie alle erforderten akrobatisches Geschick, etwas, das man dem schlaksigen Assistenten durchaus nicht zugetraut hätte.
Obwohl er ein bisschen Mitleid mit dem jungen Mann hatte, dachte Raven nicht daran, ihm etwa das Tablett abzunehmen. Immerhin war er hier nicht der Gastgeber.
Le Pierrot schien sich auch nicht als Gastgeber zu empfinden, denn er ließ seinen Assistenten allein weiterbalancieren. Fasziniert verfolgte Raven, wie der Schlacks es schaffte, mit dem Ellenbogen einen Platz auf dem Schreibtisch freizuräumen, das Tablett darauf abzustellen und dabei trotzdem nicht die untergeklemmten Schnellhefter zu verlieren.
Diese Schnellhefter waren offensichtlich allesamt für le Pierrot bestimmt, denn der junge Mann übergab ihm den ganzen Stoß und machte sich dann ohne weitere Aufforderung daran, den Kaffee einzugießen. Er war hervorragend dressiert.
Raven nahm dankend eine Tasse Kaffee und ein Schinkensandwich von ihm entgegen, während sich le Pierrot durch den Hefterstapel wühlte. An Stellen, die den Inspektor besonders interessierten, hielt er inne, um sie wie im Selbstgespräch halblaut zu lesen. Raven beobachtete ihn fasziniert.
Der Assistent hingegen schenkte dem Gemurmel seines Chefs keine Beachtung. Er hatte sich wahrscheinlich längst daran gewöhnt und auch den Ehrgeiz abgelegt, den Sinn der Worte auszulegen. Er schob dem Inspektor eine Tasse Kaffee unter die Nase.
Le Pierrot hob den Blick und starrte den jungen Mann an, als sei er überrascht, ihn überhaupt noch vorzufinden. Seine wasserblauen Augen waren kleiner als gewöhnlich und funkelten tückisch. »Du hast schon wieder die Tür offen gelassen, Jacques. Mach sie doch bitte zu, okay? Am besten hinter dir.«
Der Kriminalassistent, ohnehin nicht eben mit dem braunsten Teint gesegnet, wurde womöglich noch ein bisschen blasser. Raven erwartete jetzt ein »Gewiss, Herr Inspektor« von ihm, aber das kam nicht. Er neigte nur ganz leicht den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um und schritt aus dem Raum. Er knallte nicht einmal die Tür hinter sich zu.
»Hochinteressante Daten, Monsieur Raven«, sagte le Pierrot aufgeräumt und klopfte mit der rechten Hand auf den Schnellhefterstapel. »Der Bericht aus dem Labor zum Beispiel entlastet Sie und Miss McMurray ganz erheblich. Weder an Ihren Händen noch an den Händen von Miss McMurray sind Schmauchspuren gefunden worden, was beweist, dass Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Waffe abgefeuert haben. Somit kommen Sie als Mörder der beiden Männer nicht in Frage.
Raven nahm den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse, beugte sich vor und goss sich selber noch einmal nach, ohne erst um Erlaubnis zu fragen. Le Pierrot hätte sie ihm aber auch sicher nicht verweigert. Da er seit Jahren in diesem Gebäude arbeitete, musste er wissen, dass man zum Hinunterspülen der hiesigen Schinkensandwiches mehr als eine Tasse Kaffee brauchte.
»Sehr schön, die Handschuhtheorie«, meinte Raven ohne übermäßigen Sarkasmus. »Bleibt nur noch zu erklären, wo Melissa - Miss McMurray - und ich die Handschuhe, die Mordwaffe und den Kristallschädel gelassen haben. Wahrscheinlich haben wir sie zerbröselt und runtergeschluckt, während wir auf das Eintreffen der Polizei warteten.« Auf was für Metaphern man bei so einem versteinerten Schinkensandwich nicht alles kam.
»Sie könnten den Raum kurzzeitig verlassen haben«, sagte le Pierrot, und er hob
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