Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
selbst wenn er sicher gewesen wäre, dabei sein Leben zu verlieren.
Mit ein paar Riesensätzen war er den Weg hinauf, die Stufen hoch und bei der Tür. Mit beiden Händen umklammerte er den Türgriff und zog daran, so stark er konnte.
Nichts. Die Tür blieb fest im Schloss.
Verdammt! Was sollte er bloß tun?
Keuchend und schnaufend, immer noch ein wenig benommen von der mahlenden Vibration, lehnte er sich gegen die Wand neben der Tür. Erst jetzt bemerkte er wirklich, dass sie immer noch so fest gefügt war wie vor dem Eintreten der Katastrophe. Selbst die Scheiben der Fenster waren nicht aus ihren Rahmen gefallen, ja, sie hatten nicht einmal Risse oder Sprünge.
Ein namenloses Grauen beschlich Ole, während er so dastand. Was war das für ein Erdbeben, das alles, was in seiner Bahn lag, nur erschütterte, dann aber völlig unversehrt zurückließ?
Mit einer mächtigen Willensanstrengung unterdrückte Ole sein Entsetzen. Jetzt kam es bloß darauf an, Hilfe zu bringen. Später konnte er dann immer noch versuchen, das alles zu verstehen!
Gehetzt schaute er sich um. Die Fenster lagen zu hoch und waren viel zu klein, als dass er durch sie ins Innere des Hauses hätte gelangen können. Aber hinein musste er, daran führte nichts vorbei. Nur wie?
Auf einmal fiel ihm das riesige Buntglasfenster an dem einen Ende der Veranda auf der Rückseite des Hauses ein. Mit einem Knüppel oder einem Stein konnte er es einschlagen und durch das Loch ins Arbeitszimmer des Chefs gelangen, einen Raum, den er noch nie von innen gesehen hatte, da der Zutritt dazu streng verboten war.
So schnell er konnte, stolperte er ums Haus herum. Immer noch vernahm er kein Lebenszeichen aus dem Inneren. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen.
Er taumelte um die letzte Ecke - und blieb wie festgefroren stehen. In einem jähen Reflex kniff er die Augen zu.
Aus dem bleiverglasten Panoramafenster des Arbeitszimmers, das bis zum Boden der Veranda reichte und ein Ole unverständliches Motiv zeigte, drang ein gleißender Schein, der ihn zu blenden drohte. Als er sich zwang, die Augen wieder einen Spalt zu öffnen, sah er flammende Helligkeit in langen Zungen hinter der bunten Scheibe tanzen.
Sein Atem stockte, und sein Herz schien auszusetzen.
Es konnte nur eine Erklärung dafür geben: Im Arbeitszimmer brannte es. Und es musste ein höllisches Feuer sein, das in den alten Möbeln und den Büchern seines Chefs reichliche Nahrung fand, denn das Licht war einfach überwältigend.
Nur seltsam, dass er durch die Scheibe noch keine Hitze spürte ...
Aber wahrscheinlich isolierte das dicke Bleiglas einfach nur gut.
Jedenfalls konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Scheibe unter der Einwirkung der leckenden Feuerzungen zerschmolz oder vor Hitze auseinander sprang.
Mit irre flackernden Augen, in denen sich der Schein des Brandes spiegelte, blickte sich Ole in verzweifelter Eile um. Immer noch von der Helligkeit geblendet, vermochte er im Dunkel rings um das Haus weder einen Knüppel noch irgendetwas anderes zu entdecken, womit er das Fenster hätte einschlagen können. O verdammt ...
Egal - dann musste eben die Faust genügen. Und wenn er sich dabei verletzte - was machte das schon? Jetzt kam es schließlich auf jede Sekunde an. Falls in dieser Flammenhölle noch jemand lebte, brauchte dieser Mensch auf der Stelle Hilfe, sonst war es zu spät.
Ole stürmte auf die Veranda und holte mit dem Arm weit aus, um das Fenster zu zertrümmern.
Er kam nicht mehr dazu.
Ein unwirklicher Sog erfasste ihn mit unwiderstehlicher Macht und riss ihn auf die Scheibe zu. Einen Augenblick lang glaubte er, die Scheibe sei zerborsten und er werde von dem Vakuum angesaugt, das im Zentrum eines Feuersturms entsteht, wenn die Flammen den Sauerstoff in ihrem Umkreis aufzehren. Dann jedoch begriff er, dass diese Erklärung nicht zutreffen konnte.
Denn die Bleiglasscheibe war nach wie vor völlig unversehrt.
Er heulte laut und gellend auf und riss in einer sinnlosen Geste auch den anderen Arm hoch, um wenigstens sein Gesicht zu schützen. Aber alles ging so schnell, dass er nicht die geringste Chance hatte.
Als er die Scheibe durchbrach, zersplitterte sie in unzählige scharfkantige, ausgezackte Bruchstücke. Zwei davon drangen wie Speere durch die Lider in seine Augen ein, zerfetzten seine Augäpfel und blieben erst dahinter stecken, tief in sein Gehirn eingegraben.
Aber trotzdem starb er noch nicht. In dem unendlichen Augenblick, der dem Tod
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