Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
seiner angeblich unsterblichen Seele vorausging, nahm er sogar noch eine Reihe von Dingen wahr, die sich wie mit feurigen Eisen in sein Ich einbrannten.
Das erste davon war, dass jenseits der Scheibe überhaupt keine Hitze herrschte.
Das zweite war ein hässliches, gemeines Lachen, das in langen Wellen durch seinen Kopf hallte, eine dämonische Vibration. Und er begriff, dass es diese Vibration gewesen war, die die Schäre Godsby erschüttert hatte.
Die Wahrnehmungen, die darauf noch folgten, waren zu grässlich, als dass sein Verstand sie hätte aufnehmen können, ohne darüber zu zerbrechen. Und das tat er dann auch.
Dann endlich, Ewigkeiten später, war nichts mehr.
So also, dachte Raven, sieht die Hölle aus - jedenfalls die Hölle für kleine Ganoven und Privatdetektive - und also auch für mich.
Obwohl draußen die Sonne längst aufgegangen war, saß er immer noch auf dem harten, kissenlosen Holzstuhl in Inspektor le Pierrots Büro. Sein Hintern tat ihm allerdings jetzt nicht mehr weh. Stattdessen spürte er ihn gar nicht mehr, ebenso wenig wie seine Beine. Füße und Hände waren von der Schlaflosigkeit dick angeschwollen. Sein Herz hämmerte und dröhnte wie eine Dampframme, und trotzdem kam es ihm so vor, als sei sein Kreislauf vollständig zum Erliegen gekommen.
Warum hatte er bloß den ganzen Kaffee getrunken? Jetzt bezahlte er den Preis für den übermäßig aufputschenden Effekt. Er war ein zusätzliches Folterinstrument, dessen Wirkung Raven erst jetzt begriff.
Und eine Folter war das, dem Raven unterzogen wurde, in der Tat, daran konnte es keinen Zweifel geben. Wenn er aufstehen wollte, stießen sie ihn auf den Stuhl zurück. Wenn er zur Toilette musste, gestatteten sie es ihm nicht. Dass sie noch nicht angefangen hatten, ihn zu schlagen, lag wohl nur daran, dass er nicht dringend tatverdächtig war. Und wenn er sich weiterhin so störrisch anstellte und darüber hinaus dauernd in Widersprüche verwickelte, würden sie auch damit noch beginnen. Besonders dieser harte Bursche, der nach Inspektor le Pierrot und Kriminalassistent Petit die Rolle des Verhörenden im »heißen Sitzbad« übernommen hatte - Leutnant Elmo Savignac.
Aus trüben Augen blinzelte Raven seinen Peiniger an. Die Verhörführung seiner beiden Vorgänger hätte ein geschickter Staatsanwalt sicherlich noch als »etwas übertriebenen Diensteifer« abtun können. Bei Leutnant Elmo Savignac war selbst das nicht mehr möglich.
Er war ein mittelgroßer, farbloser und überaus ordentlicher Mann mit peinlich geputzter Goldrandbrille. Außerdem war er ein ausgemachter Sadist und offenbar darauf bedacht, sich seine Sporen für die nächste Beförderung zu verdienen. Dass diesmal ausgerechnet Raven dazu herhalten musste, die nötigen Punkte für seinen beruflichen Aufstieg zu sammeln - nun, das war eben Pech für Raven.
»Du rutschst ja auf dem Stuhl herum, als hättest du keine Lust mehr zu sitzen«, bemerkte Savignac übergangslos. »Was würdest du denn davon halten, wenn ich dich ein bisschen aufstehen ließe?«
Savignac war der Erste der drei Verhörspezialisten, die Raven duzten; die beiden anderen hatten ihn gesiezt. Er war auch der Erste, der nur gelegentlich Fragen zur Sache stellte und sich im Übrigen darauf beschränkte, gemeine Bemerkungen zu machen, die zusätzlich zu den körperlichen Unbequemlichkeiten darauf abzielten, Ravens Widerstandswillen zu brechen.
Raven antwortete nicht. Er blinzelte nur noch einmal müde.
Der Leutnant schob mit einer katzenhaft langsamen Bewegung den Sessel, auf dem er saß, nach hinten. »Ja, ich glaube, ich werde dir erlauben, aufzustehen«, fuhr er genüsslich fort, während er sich erhob und um den Tisch herumkam. Er bewegte sich immer noch unglaublich langsam, fast wie in Zeitlupe, und Raven begann sich zu fragen, ob die Schlaflosigkeit seine Zeitwahrnehmung zu unterminieren begonnen hatte. Aber wären dann nicht auch die Worte Savignacs zerdehnt gewesen?
»Hoch mit dir, Junge«, sagte der Leutnant gefährlich ruhig, als er direkt vor Raven stand. »Soll ich dir ein bisschen dabei helfen, Sohn?« Er sprach ein ganz passables Englisch, das sogar hier und dort mit Slangausdrücken durchsetzt war. Wahrscheinlich hatte er sich irgendwann einmal bei einer Schlips-und-Kragen-Studienreise nach London die Nächte ohne Schlips und Kragen in der Gesellschaft gewisser Damen vertrieben, deren Wortwahl nicht ganz jener der britischen Königsfamilie entsprach. Dass der Sinn seiner Worte nur
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